30.11.2006

Ägyptische Filme

Am Wochenende findet in Berlin ein kleines Festival des aktuellen ägyptischen Films jenseits des Mainstreams statt - und die Schreiberin ärgert sich natürlich, dass sie nicht hingehen kann...
Et voilà, das PROGRAMM
Freie Universität, Fr. 01. Dezember 2006, 16:00 Uhr Ägyptisches Kino, Identität, Künstlerische Freiheit, Tabus und Zensur
Podiumsdiskussion mit den Regisseuren, Ägypten Rebekka Hillauer, Journalistin, Berlin Moderation: Hakim El-Hachoumi, Berlin 18:00 Uhr Real One Kurzfilm, 12 min., Ägypten 2005 Regie, Drehbuch, Kamera und Schnitt: Kaiser, Er hat fünf Pfund, ist am Ende des Arbeitstages erschöpft. Er hasst seinen Chef, und er hat eine Reihe von Möglich-keiten, seine fünf Pfund auszugeben... A glimpse in the sky Kurzfilm, 10 min., Ägypten 2003 Regie: Kamla Abu Zekri, Diverse Auszeichnungen Furcht und Elend eines Mädchens in Kairo. Ihr Onkel hat sie beim Flirten mit einem Jungen erwischt hat, woraufhin sie leugnet uns einen Meineid auf den Koran schwört. Voller Gram schließt sie sich ein und beginnt zu beten. Kurze Zeit später stirbt ihr Onkel. Ein Zeichen von Gerechtigkeit??!!
Daraboka Kurzfilm, Ägypten 2006, 5 min. Regie: Omar Khaled Ein Händler für gebrauchte Töpfe kommt in die Stadt. Das bringt einen kleinen Jungen auf eine sehr gute Idee... Zunächst
The place I call home Dokumentarfilm, 52 min., Ägypten 2006, arabische Originalfassung mit engl. Untertiteln Produktion und Regie: Tamer Ezzat Vier junge Ägypter unternehmen auf unterschiedlichen Wegen eine Reise, um herauszufinden, welchen Ort jeder von ihnen „Heimat“ nennen kann. Seien es finanzielle, familiäre, religiöse, berufliche oder persönliche Motive, sie versuchen den Ort zu finden, wo „sie hingehören“. Der Weg der Emigration, der Weg zu sich selbst... Gespräch mit den Regisseuren EISZEIT Kino, Sa. 02. Dezember 2006, 20:00 Uhr
A glimpse in the sky Kurzfilm, 10 min., Ägypten 2003 Regie: Kamla Abu Zekri, Diverse Auszeichnungen Furcht und Elend eines Mädchens in Kairo. Ihr Onkel hat sie beim Flirten mit einem Jungen erwischt hat, woraufhin sie leugnet uns einen Meineid auf den Koran schwört. Voller Gram schließt sie sich ein und beginnt zu beten. Kurze Zeit später stirbt ihr Onkel. Ein Zeichen von Gerechtigkeit??!!
The Elevator (El-Ascenseur) Kurzfilm, 12 min., Ägypten 2005 Regie und Drehbuch: Hadeel Nazmi, Diverse Auszeichnungen und Preise Eine Frau ist im Fahrstuhl stecken geblieben. Plötzlich bekommt sie auf ihrem Handy Anrufe eines Unbekannten, der beginnt mit ihr zu flirten und ihr ihre Gedanken und Gefühle zu entlocken. Dies funktioniert besonders gut, wenn sie ihr traditionelles Kopftuch abnimmt!! Der Film sorgte, als anti-islamisch beschimpft, für einige Aufregung!
Scetch pad
Dokumentarfilm, 12 min. Regie: Salah el Gazzar Eine Insel im Nil. Ein Kind schaut und beobachtet, zeichnet was es sieht und fühlt ...
Everything is gonna be alright Dokumentarfilm, 55 min., Ägypten 2003-2004, arabische/amerik. O. m engl. U. - Produktion und Regie: Tamer Ezzat Ein Film über Ägypter, die zur Zeit des 11. September in New York leben. Alle haben auf irgendeine Art und Weise einen Bezug zu den Medien, speziell zu TV oder Radio. Sie sprechen über den Einfluss des 11. September auf ihr Leben und die Rolle der amerikanischen Medien bei Zeichnen eines negativen Bildes der Araber. Gespräch mit den Regisseuren
EISZEIT Kino, So. 03. Dezember 2006, 20:00 Uhr
The Dead won’t mind (Al-Maiyet Mesh ha Yiza'al)
Kurzfilm, 10 min., nach einer Kurzgeschichte von Adel Al Ghanam, Ägypten 2004 Regie und Drehbuch: Emad Mabrouk Ein armer Junge wünscht sich sehnlichst ein Fahrrad. Das ist sein größter Traum. So schließt er das Fahrrad seines Nachbarn an einen Wagen an, mit dem die Särge zum Friedhof transportiert werden. Bei der nächsten Beerdigung hat er so endlich die Möglichkeit, Fahrrad zu fahren. Inmitten trauernder Gesichter erscheint ein Lächeln... I want to kill the jackass (Awiz Amawwit Al-Hummar) Kurzfilm, Ägypten 2005 20 min Regie: Mohamed El-Assyouti's Kickboxer Khaled El Del3 trifft im alles entscheidenden Kampf auf seinen alten Feind Shi7ta Tarbana. Wenn überall Konspiration und Korruption herrschen, kann nur eine magische Intervention die Balance des Schicksals beeinflussen...
Kaako Kurzfilm, Ägypten 2006, 15 min. Welturaufführung Regie. Omar Khaled Ein älterer Herr führt uns durch seine Stadt, um den verstorbenen Mitgliedern der kriminellen Vereinigung, zu der er einst gehörte, ein kleines Denkmal zu setzen. IMPROVISED ENCOUNTER (Premiere) Dokfilm,Germany-Egypt 2006,48 min By Hakim El-Hachoumi Improvised Encounter started as an interview, questions by Hakim, answers by Nora, and gradually went from the topics of the immediate present of the two of them, to the topics of their past, homelands and identities. Both an example of complex identities originating from the Arab world, the dialogue between Hakim and Nora goes on in Arabic, French and English turns from the regular format of Q & A to a piece of dance choreography to poetry or to pure visual rendering. Berlin is another key to this film; it is “in” Berlin that this encounter takes place, and under the influence of all the aspects that make Berlin relate between an Egyptian and a Moroccan. The question of identity and transformation arises from there. Gespräch mit den Regisseuren

28.11.2006

Khamsoun - Corps Otages

Wie ich bereits geschrieben hatte wurde das Stück Khamsoun (Corps Otages) von Fadhel Jaibi und Jelila Baccar in Tunesien zensiert. Jetzt gibt es eine Online-Petition dagegen. Unterschreiben kann man hier, der Text lautet wie folgt:
PETITION Soutien à Jalila Baccar et Fadhel Jaïbi, auteur dramatique et metteur en scène tunisiens
Nous apprenons qu'en Tunisie la commission consultative dite d'orientation théâtrale a recommandé la censure de la pièce Khamsoun("Corps otages"). Cette recommandation est effective depuis qu'elle a été entérinée par le ministre de la Culture. Faut-il rappeler que les auteurs de cette pièce, Jalila Baccar et Fadhel Jaïbi, ont été au coeur du renouvellement théâtral en Tunisie et dans le monde arabe? Depuis trente-cinq ans, ils ne cessent, de pièce en pièce, de révolutionner cet art et de l'enrichir par des innovations scéniques animées par un esprit critique qui dénonce les défauts, les manquements et les chimères de leur société. Leur oeuvre est, en outre, mondialement reconnue et célébrée. Et ceux qui ont eu le privilège d'assister en juin dernier à Paris au spectacle de leur pièce (à l'Odéon Théâtre de l'Europe), désormais interdite dans leur pays, ont été impressionnés par sa performance littéraire et artistique ainsi que par sa juste portée politique. Ne répercute-t-elle pas par les purs moyens du théâtre la violence intégriste et l'idéologie rampante qui la sous-tend et qui, insidieusement, se répand pour légitimer le crime? Comment un régime construit sur la modernité prive-t-il la société qu'il gouverne d'un travail de représentation émanant de sa réalité et destiné à aider les citoyens à mieux saisir les ressorts de la crise qui bloque les évolutions, favorise les régressions et pénalise l'avenir? Nous nous élevons avec force contre cet acte de censure qui prive les artistes de leurs moyens de vie et de leur raison d'être.
Sustain to Jalila Baccar and Fadhel Jaïbi, Tunisian drama writers and theatre directors
We have just learned that, the Consultative Commission called “d'orientation théâtrale" in Tunisia has recommended the censorship of the Play “Khamsoun” (“Corps otages”) .This recommendation is fully effective since it has been ratified by the Ministry of Culture. Needless to remember that the authors of this play, Jalila Baccar and Fadhel Jaïbi, have been at the heart of the theater rebirth in Tunisia as well as in the rest of the Arab world. For the last 35 years, through each of their stage creations, they have never stopped stiring up the world of the Theatre and injecting new impulse to it. They have fed and enrichened it by scenographical innovations unveiling the failures, the gaps, and the make believes of the Society they live in. Moreover, their numerous performances have been worldwide acclaimed. Those of you who have had the chance to applaud them on the occasion of their latest * now banned * play at the Odéon Théâtre de l'Europe in Paris in June have been impressed by its high literary and artistically quality as well as by the soundness of its political dimension. Indeed, this play reflects, through the pure magic of theater tools the violence of radicalism and the creeping ideology lying underneath it, legitimizing crime. How can a regime supposedly based on modernity deprive citizens it is ruling from a performance aiming at raising their awareness of the root causes of a crisis which jeopardizes progress, encourages regression and endangers the future? We strongly condemn this act of censorship which deprives the artists from their source of living and above all, from their very reason to live.

26.11.2006

Kopftuchstreit in Tunesien

Zwar nicht unbedingt früh dran, aber trotzdem recht treffend: Edith Krestas Kommentar zum tunesischen "Kopftuchstreit" in der taz von gestern.

24.11.2006

JCC - Was bleibt?

Ein kleiner Rückblick 40 Jahre ist das Festival dieses Jahr alt geworden, 40 Jahre auch das tunesische Kino (wenn man Omar Khlifis Al Fajr als ersten genuin tunesischen Film annimmt, worüber man sich ja angesichts von Albert Samama-Chikly auch wieder ordentlich streiten kann). Ein Alter, in dem man eigentlich erwachsen sein sollte. Trotzdem litten die JCC 2006 noch immer, oder viel eher: wieder, unter einigen Kinderkrankheiten. Da waren zunächst mal ein Haufen kleinerer und größerer organisatorischer Probleme: zu viele Einladungen für die Eröffnung, zuwenig für die Cloture, ein Katalog, der nicht nur voller Fehler ist, sondern auch erst am 5. Festivaltag und nur auf beharrliche Nachfrage unterm Tisch hervorgezogen wird, Pressevorführungen, deren Termine mindestens einmal pro Tag geändert werden und die mit bis zu 90 Minuten Verspätung anfangen, einzelne Filme, die nur in Originalsprache (nur französisch oder arabisch) ohne jegliche Untertitelung laufen (zum Beispiel Indigènes und diverse marokkanische und tunesische Kurzfilme), in rund 80% der Säle eine miserable Bild- und Tonqualität, die von Jahr zu Jahr schlechter wird … Jeder dieser Punkte für sich genommen lässt sich wahrscheinlich irgendwie entschuldigen, in der Gesamtheit verweisen diese kleinen Problemchen jedoch auf ein viel größeres Problem. „Man kann nicht drei Monate vorher anfangen, ein Festival zu organisieren“, brachte der tunesische Regisseur und Produzent Brahim Letaief in der Sonntagsbeilage von La Presse auf den Punkt, was viele dachten. Das dachte wohl auch die Jury, die in einer an Deutlichkeit kaum zu überbietenden Rede bei der Preisvergabe nicht nur Demokratie, Freiheit und das Ende der Zensur forderten, sondern eben auch eine vom Staat unabhängige Festivalorganisation. Tosender Applaus kam vor allem von den tunesischen Filmschaffenden (später widmete Lotfi Abdelli, der als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wurde, seinen Preis allen tunesischen créateurs, die für die Freiheit der Kunst kämpfen). Wo wir gerade bei der Preisverleihung sind: nach offenbar erbitterten Diskussionen innerhalb der Jury ging der Goldene Tanit an Nouri Bouzids Film Making Off, genau zwanzig Jahre, nachdem dieser für seinen Debütfilm L’homme des cendres diesen Preis schon einmal gewonnen hatte. Auch wenn Making Off vielfach auf L’homme des cendres verweist (manchmal auch wie eine moderne Version von Mohamed Zrans Essaida [1996] wirkt), kommt er nicht immer an dessen Perfektion heran. So ist die Entscheidung der Jury sicher auch als Zeichen zu werten – und wirkt doch wie die making off-Partien des Films selbst ein wenig wie eine dem Angriff vorausgehende Verteidigung, eine Art Präventiv-Tanit also, um Bouzid gegen mögliche Anfeindungen in Schutz zu nehmen. Betrachtet man die anderen Preisträger und generell die Wettbewerbsfilme fallen zwei Dinge auf. Erstens die Dominanz arabischer Filme und zweitens der „Den habe ich doch schon mal irgendwo gesehen“-Effekt. Von den fünfzehn Wettbewerbsfilmen – deren Qualität im Durchschnitt bedeutend besser war als zum Beispiel auf der Biennale des cinémas arabes dieses Jahres – kamen mit dem herausragenden Daratt (Tschad) und L’ombre de Liberty (Gabon) genau zwei aus dem Subsahara-Afrika (drei, wenn man den in Mali spielenden Bamako des Mauretaniers Abderrahman Sissako dazurechnet) – und das auf einem Festival, das von Tahar Cheriaa, dem Übervater des tunesischen Films, mit der Intention gegründet wurde, arabische und afrikanische Welt und die cinémas du sud zusammenzubringen. Dabei liefen im Panorama durchaus afrikanische Filme, die man eher im Wettbewerb vermutet hätte, so zum Beispiel Les Saignantes (Jean-Pierre Bekolo, Kamerun 2005) oder Un matin bonne heure (Gahité Fofana, Guinea 2005). Und zweitens gilt es eben die Tatsache zu beklagen, dass bis auf die tunesischen Filme keinerlei Premieren im Wettbewerb vertreten waren. Bled Number One, Barakat, Bab Aziz, Dunia, Bamako, Daratt, L’attente – trotz ihrer unbestrittenen Qualität: alles schon auf diversen Festivals oder im Kino gelaufen. Sind die JCC für die Regisseure einfach nicht mehr attraktiv (sie liegen, wegen des Ramadans noch zusätzlich nach hinten verschoben, in unmittelbarer Nachbarschaft zu San Sebastian, Marrakech, Amiens, Kairo, Ouagadougou) oder hat sich einfach niemand die Mühe gemacht, neue interessante Filme zu suchen? Hinzu kommt ein Haufen Nebenreihen, allesamt von ausgezeichneter Qualität und nach wie vor auf die cinémas du sud konzentriert (Marokko, Lateinamerika, Südkorea u.a.), aber in ihrer Fülle eher verwirrend. Offensichtlich dient das Festival mehr und mehr dazu, die Filme zu zeigen, die sonst nie die tunesischen Leinwände erreichen würden. Ein nobles Anliegen angesichts der brachliegenden Kinolandschaft des Landes. Noch schöner wäre es aber, wenn diese Filme auch ihren ganz normalen Weg in den Verleih finden würden. Jetzt will ich das ganze aber auch nicht schlecht reden. Immerhin gab es eine Vielzahl wirklich außergewöhnlicher Filme zu sehen, Filme, die eben nicht nur ein kleines Häuflein Kritiker begeistern sondern auch das Publikum anziehen, das sich sonst von den Kinosälen eher fernhält, und vor allem die Gewissheit: es bewegt sich wieder was im tunesischen Kino. Nach Jahren der Krise wo man sich über den einen oder anderen ordentlichen Film alle zwei Jahre freute wird es langsam offensichtlich: die junge Generation erkämpft sich ihren Platz, mit neuen Themen und neuen Formen, die alle zugleich Beobachtung wie Ausdruck dieser Krise sind. Filme, die sich mit Realitäten auseinandersetzen, die man lange lieber verschwiegen hat. Dazu demnächst mehr… Und zum Schluss noch der Verweis auf das lesenswerte JCC-Dossier von Africiné.

19.11.2006

JCC - Les Tanités-

Compétition cinéma longs métrages Tanit d’or Making off, de Nouri Bouzid (Tunisie)
Tanit d’argent Daratt, de Mohamed Salah Haroun (Tchad)
Tanit de bronze Attente, de Rashid Masharaoui (Palestine)
Prix spécial du jury Bamako, de Abderrahmane Sissako (Mauritanie) Prix de la meilleure actrice Mlle Thouraya Alaoui pour son rôle dans Tarfaya, de Daoud Aoulad Syad (Maroc)
Prix du meilleur acteur Lotfi Abdelli pour son rôle dans Making off, de Nouri Bouzid (Tunisie)
Meilleur second rôle féminin Fatma Ben Saïdane pour son rôle dans Making off Meilleur second rôle masculin Béchir El Majidi pour son rôle dans Ahlam de Mohamed Darradji (Irak)
Mention spéciale Tendresse du loup de Jilani Saâdi (Tunisie)
Courts métrages Tanit d’or Reste tranquille, de Sameh Zoabi (Palestine)
Tanit d’argent La pelote de laine, de Fatma Zohra Zamoun (Algérie)
Tanit de bronze Aujourd’hui 30 novembre, de Mahmoud Souleiman (Egypte)
Mention spéciale du jury Be Kumko, de Cheik Fantamady Camara (Guinée)
Compétition vidéo Prix de la meilleure œuvre dulong metrage Depuis que tu n’es plus là, de Mohamed Bakri (Palestine)
Prix spécial du jury Ces filles-là, de Tahani Rashed (Egypte)
Mention spéciale du jury Margaret Garner, de Mustapha Hasnaoui (Tunisie)
Prix de la meilleure œuvre du court métrage Deweneti, de Diana Gaye (Sénégal)
Prix spécial du jury
Sacrées bouteilles, de Fitouri Belhiba (Tunisie)

18.11.2006

JCC -9-

Nouri Bouzid hat sich wieder beruhigt und sitzt inzwischen, also kurz vor der Preisverleihung, strahlend in der Hotelhalle. Wie Radio Mosaique FM bereits vorab gemeldet hat gewinnt er wohl den Tanit d'or, Daratt und L'attente kriegen Silber und Bronze. Mal sehen ob es stimmt.

JCC -8-

17. November
Die JCC naehern sich ihrem Ende, nichts neues mehr im Wettbewerb. Im Panorama laeuft Selma Baccars (Fatma 75, Habiba M'sika) neuster Film Khochkhach - selten konservativ verleiht er der Hauptfigur keinerlei Wuerde, schlicht und einfach ein Aergernis, die Begruendung folgt irgendwann nach Ende des Festivals. Nicht hoch genug zu schaetzen hingegen Elle et Lui von Elyes Baccar, auf den ich immer wieder gerne verweise.
Im Videowettbewerb ausserdem Mohamed Bakris Depuis que tu n'es plus là und Le dernier printemps à Abu Dis und in der Informations-Sektion Sur ma ligne (siehe Biennale). Ausserdem Six filles, eine sympathische Dokumentation ueber eine aegyptische Frauen-WG und den etwas unentschlossen daherkommenden The place I call home.
18. November
Heute Abend ist Preisverleihung, die Reden sind schon geschrieben, die Gewinner eingeflogen und in der Geruchtekueche brodelt es kraeftig. Gewisse Mitglieder der Film-Jury sind wohl der Ansicht, Nouri Bouzids Making Off sei anti-islamisch... Im Videowettbewerb scheint es wohl auf J'en ai vu des étoiles oder Je suis celle qui porte les fleurs vers sa tombe hinauszulaufen. Munkelt man...

17.11.2006

JCC -7-

16. November
Im Wettbewerb (wieder-) gesehen: den wunderbaren Bab' Aziz von Nacer Khemir und Jocelyne Saabs vieldiskutierten Dunia. Ersterer, Reise der kleinen Ishtar und ihres Grossvaters zu einem Derwisch-Treffen, ist ein poetisches Plaedoyer fuer einen friedlich gelebten Islam, in meisterhafte Bilder getauchte arabische Erzaehltradition ohne in Kitsch zu verfallen. Und, grosse Ueberaschung: der Regisseur von Les baliseurs du desert und Le collier perdu de la colombe, der sich sonst meines Wissens jeden politischen Kommentars enthaelt, aeussert sich im Quotidien, dem taeglichen Festival-Blatt, ueberraschend deutlich zur Rolle und zum okzidentalen wie orientalischen Missverstaendisses des Islam.
Ebenfalls ein klares visuelles Konzept im aegyptischen Film Dunia, Geschichte einer jungen Frau, die Taenzerin werden will, und zugleich harsche Kritik der libanesischen Regisseurin an der Genitalverstuemmelung. Der Beweis dafuer, dass auch ein Kino mit populaeren Anklaengen (Musik von Mohamed Mounir, einige melodramatische Elemente) deutlich Stellung beziehen kann.
Im Panorama der tunesische VHS Kahloucha, eine Dokumentation von Nejib Belkadhi ueber Moncef Kahloucha, Anstreicher aus einem Arbeiterviertel in Sousse, der von Tarzan und Co. traeumt. Mit einem Kameramann, der eigentlich Hochzeiten filmt, dreht er seine eigenen Versionen grosser Filmklassiker, "Der arabische Tarzan" oder "Frankenstein Kahlouchein". Und das ganze Quartier fiebert der Premiere des neusten Kahlouchas entgegen. VHS Kahloucha ist nicht nur ein Film ueber einen Filmliebhaber, es ist auch ein Film, der ein Panorama der tunesischen Unterschicht zeichnet. Fast jeder hat ein Familienmitglied im Gefaengnis, Gewalt ist alltaeglich und der groesste Traum der Bewohner ist es, nach Italien zu immigrieren. In Tunis ist Moncef Kahloucha, der Tarzan der kleinen Leute, schon vor dem offiziellen Filmstart im Januar zur Kultfigur geworden.
Und schliessslich als schoener Abschluss des Abends Yousri Nasrallahs immer wieder ueberzeugender Dokumentarfilm A propos des garçons, des filles et du voile.

16.11.2006

JCC -6-

15. November
Es ging tunesisch weiter mit der Pressevorfuehrung des Wettbewerbsfilms La tendresse du loup von Jilani Saadi,sein zweites Werk nach dem starken ersten Langfilm Khorma. Eine Gruppe junger, arbeitsloser Maenner vergewaltigt eine Edel-Prostituierte (Anissa Daoud). Nur Stoufa versucht, seine Freunde davon abzuhalten. Doch die Prostituierte hetzt ausgerechnet auf ihn einen Schlaegertrupp. Stoufa ist wie ein chien errant, ein Strassenkoeter, der ohne Ziel umherirrt, auf der Suche nach etwas zu essen oder einer Pruegelei. Doch schliesslich erkennt er, dass er in seinem Leben nichts zustande gebracht hat. Er glaubt, in der Prostituierten die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Die Personenkonstellation dieses Strassenfilms bietet Sprengstoff, zeigt eine junge Generation auf der Suche nach Orientierung, doch die Kraft des Films entlaedt sich hauptsaechlich in gewalttaetigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Banden. Die Motivation der Hauptfiguren bleibt hingegen nebuloes.
Ausserdem im Wettbewerb der irakische Film Reves (Ahlam, siehe Biennale) und Mahamet-Salah Harouns Daratt, saison sèche, Gewinner von Venedig. Wie schon Abouna ein kraftvoller Film ueber die Suche nach einem Vater. Lange, ruhige Einstellungen, in denen das wichtig ist, was zwischen den Figuren nicht ausgesprochen wird, gute Schauspielerfuehrung und ein zutiefst humanistischer Blick praegen auch diesen Film des Regisseurs aus dem Tchad. Nach dem Buergerkrieg schickt ein Mann seinen Enkel Atim los, sich am Moerder seines Vaters zu rechnen. Atim findet den Mann und begnnt bei ihm eine Lehre als Baecker, doch je mehr er den Mann und seine Leiden kennenlernt, desto schwieriger wird es fuer ihn, den Mann zu erschiessen. Am Ende findet er eine Loesung, mit der sowohl er als auch der Grossvater in Frieden leben koennen. Grosses kontemplatives Kino ueber Schuld und Vergebung.
Im Panorama ausserdem der syrische Sous le toit (auf der Biennale unter dem titel Sous ce toit là gelaufen) sowie der marokkanische Fernsehfilm Les aretes du coeur, Panorama eines Berberdorfs an der Kueste, dass den Fischfang aufgegeben hat nachdem vor sieben Jahren eine Gruppe Fischer auf dem Meer umgekommen sind. Maenner sind seitdem Mangelware im Dorf und die Hinterbliebenen entwickeln zunehmend seltsame Eigenarten.
Ausserdem drei Kurzfilme, der mehrfach erwaehnte Une place au soleil von Rachid Boutounes, der aegyptische Aujourd'hui, 30 novembre (vgl. Biennale). Grosses Raetselraten angesichts des syrischen Behind Faces, Beobachtung einiger Frauen auf der Toilette eines Theaters - was will dieser Film und wie ist er im Wettbewerb gelandet? In der Section Internationale ausserdem der sympathische argentinische Familia rodante.

15.11.2006

JCC -5-

14. November
Nouri Bouzid ist wieder in Form. Das war wohl die zentrale Erkenntnis des gestrigen Tages nach der Premiere seines neuen Films Making Off. Die Geschichte eines jungen Taenzers (Lotfi Abdelli in einer seiner besten Rollen), der zum Selbstmordattentaeter wird, beginnt mit einer starken, rhytmischen Eroeffungssequenz, die in einer Breakdance Battle in einer Bahnhofsunterfuehrung endet. Urspruenglich sollte der Film Kamikaze heissen, doch daraus ist ein Making Off geworden, ein Film im Film, in dem Lotfi Abdelli mit seinem Regisseur die Rolle des Taenzers Bahta diskutiert, ihr Verhaeltnis zu Religion, Politik und Gesellschaft. Der Film ist politisch und trotzdem von einer gewissen Leichtigkeit, ehrlich, in der Gesellschaft verankert und frei von jeglichem aufgesetzten Diskurs oder falschem Traditionalimus. Allgemeine Begeisterung also aller Orten.
Gestern war fuer mich Tunesien-Tag: Morgens Junun, Fadhel Jaibis Adaption des gleichnamigen Theaterstuecks. Mohammed Ali Ben Jemaa als psychisch Kranker, im Dialog mt seiner Familie und seiner Therapeutin (Jallila Baccar). Trotz einer gewissen Theatralitaet, vor allem in der Raumgestaltung, hat die Adaption ihren Reiz und eine ungeheure Kraft, die einen geplaettet im Kinosessel zuruecklaesst. Wie auch Elyes Baccars Elle et Lui verweist die Krankheit der Hauptfigur auf ein komplexes gesellschaftliches und vor vor allem politisches Problem hinweist. Und Jaibi liess es sich nicht nehmen, in deutlichen Worten auf die Zensur seines letzten Theaterstueckes Khamsoun (Corps Otages) hinzuweisen und die Praktiken der "beratenden Kommission" hinzuweisen.
Schliesslich die Premiere von Hichem Ben Ammars lange erwartetem neuen Dokumentarfilm Chuft ennoujoum fi qaila (J'en ai vu des étoiles). Wie schon in seinen vorherigen Arbeiten Rais Labhar und Cafichanta beweist der Regisseur sein Talent, aussergewoehnliche Protagonisten zu finden. Ben Ammar zeigt ein Tunesien, dass man nicht im Fernsehen sieht, dass in keinem offiziellen Diskurs auftaucht. In Chouft ennoujoum... zeichnet er die Geschichte des Boxsports in Tunesien nach, von den Anfaengen zu Beginn des 20. Jarhunderts, als die Sportler noch eine Gruppe, eine Familie waren, bis zum heutigen Tag, wo es sich um junge Einzelkaempfer handelt. Dies nimmt er zum Anlass, Maenner zu zeigen, die auf Macho machen und trotzdem verletzlich sind, Figuren, denen man trotz aller Vorbehalte Sympathie entgegenbringt, und ein Film, der den Zuschauer nicht unberuehrt laesst.
Am Abend ein soirée africaine mit der Band des im Fruehjahr verstorbenen Meister des malischen Blues, Ali Farka Touré. Und die Erinnerung an all diejenigen, die nicht dasein koenne, allen voran den Gruendervater der JCC , Tahar Cheriaa, der ebenso im Kranenhaus liegt wie Taieb Louhichi nach seinem schweren Verkehrsunfall Anfang des Jahres.

14.11.2006

JCC -4-

13. November Im Wettbewerb montags: die libanesische Musikkomödie Bosta, ein Film, der die Nachbürgerkriegs-Generation zeigt. Eine Tanzgruppe tourt mit ihrer modernen Version des Dabke durchs Land und trifft auf viel Ablehnung. Jung gegen Alt, Tradition gegen Moderne. Ein Film, der Hoffnung auf einen konfessions- und generationenübergreifenden Neuanfang im Libanon vermitteln will. Außerdem Jamila Sahraouis (u.a. Stille Tage in der Kabylei) erster Spielfilm Barakat . Ebenfalls ein Portrait zweier durch den Krieg geprägter Generationen, der trotz einiger Schwächen vor allem des Drehbuchs und der Musik durch großartige Hauptdarstellerinnen und eine sensible Herangehensweise an die Ereignisse des algerischen Bürgerkriegs überzeugt. Im Panorama zu sehen unter anderem Moncef Dhouibs (Ya sultan el medina) populäre Satire La télé arrive, in der der Regisseur in Stand-Up-Comedy-Manier die Regierungsfunktionäre aufs Korn nimmt, sowie die tunesischen Kurzfilme Sabah el Khir und Train Train und der vielleicht beste, von Abbas Kiarostami beinflusst wirkende La Moisson Magique (lief u.a. auch in Oberhausen). Die diversen Nebenreihen: Nabil Ayouchs (Mektoub, Ali Zaoua) Une minute de soleil en moins (Lahthat zalam, 2002): freizügig, wild, kritisch – so dass der marokkanische Staat nach der Fertigstellung die Förderung zurückverlangte… Congo River, der neue Film des renommierten belgischen Dokumentarfilmers Thierry Michel und Fatih Akins Crossing the bridge, der hauptsächlich der guten Musik wegen und weniger auf Grund der filmischen Umsetzung sehenswert ist. Dann J’ai vue tuer Ben Barka: in bester französischer Kriminal- und Spionagefilm-Manier und kongenial umgesetzt in präzise, düstere Bildern des Paris der De Gaulle-Ära rollt Regisseur Serge Le Peron die Hintergründe auf, die zur Entführung des marokkanischen Oppositionellen Mehdi Ben Barka führten. Nachdem die Hintergründe jahrzehntelang unter Verschluss gehalten wurden und Ben Barkas Leichnam nie gefunden wurde (dazu beizeiten mehr). Zahlreich vertreten in diesem Jahr die tunesischen Filme, unter anderem läuft Moufida Tlatlis weitgehend unbemerkter Film Nadia et Sarra, eine Produktion von Arte, die dort auch im Sommer ausgestrahlt wurde. Nicht nur wegen der Hauptrolle, die von Hiam Abbas gespielt wird, erinnert der Film über einen Mutter-Tochter-Konflikt frappierend an Raja Amaris Satin Rouge. Bei einigen Einstellungen reibt man sich wirklich verwundert die Augen und muss sich fragen, woher man die kennt. Ganz abgesehen von der inflationären Verwendung roter Kleider als Symbol der Freiheit der Frau (ich hatte das bis jetzt eher für eine Phantasie von Tlatlis männlichen Kollegen gehalten – vielleicht zeigt sich hier aber auch einfach der Einfluss von Ko-Autor Nouri Bouzid) ist es doch schade, dass Tlatli ihrer verzweifelten, sich in einer Krise befindenden Hauptfigur jegliche Würde nimmt. Sie reduziert ihr Leiden darauf, dass die Frau in den Wechseljahren ist und zu blöd, die Hilfe anderer Menschen anzunehmen. Tiefgang? Fehlanzeige. Wie schon am Vortag: der Videowettbewerb lohnt sich! What a job?, ein jordanischer Kurzfilm mit einer witzigen Grundidee (gesucht wird der Minister of Hope for the Middle East) und Je suis celle qui porte les fleurs vers sa tombe, ein sehr intimer Dokumentarfilm einer syrischen Migrantin, die aus politischen Gründen im Gefängnis saß, ihre Heimat verlassen hat und nach langen Jahren in Paris wieder zurückkehrt. Auf der Suche nach den Spuren der Vergangenheit gelingt ihr ein Blick unter die Oberfläche der syrischen Gesellschaft. Ihr Projekt ist es, die Filme zu drehen, die sie schon lange drehen wollte. Je suis celle… zeigt ihre Recherche, die zum eigenständigen Film geworden ist, kein bloßes Making Off, sondern eine Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Verhältnis zu ihrer ehemaligen Heimat.

13.11.2006

JCC -3-

Mit 90 Minuten Verspaetung heute frueh die Pressevorfuehrung von L'ombre de Liberty von Imunga Ivanga aus Gabon. Ein Bulle einer Spezialeinheit auf der Suche nach Liberty, einem Wesen - einem Schatten vielleicht oder einer Frau - , das wie ein Piratensender kritische Nachrichten uebers Radio verbreitet. Und ein Journalist in der Krise, der fuer Liberty gehalten wird. Gemischte Gefuehle: sehr rhythmisch geschnitten, starke Bilder, gute Verbindung der beiden Haupthandlungsstraenge, aber eher unschluessig in der Aufloesung.

JCC -2-

12. November Sonntag geht es richtig los. Im Wettbewerb war am ersten Publikumstag Bled Number One, wunderbarer zweiter Spielfilm des Frankoalgeriers Rabah Ameur-Zaimeche (Wesh wesh, qu’est ce qui se passe?), zu sehen, in dem er sich auf Entdeckungsreise ins Land seiner Eltern begibt (siehe meinen Text à propos). Außerdem Tarfaya des Marokkaners Daoud Aulad-Syad. Wie schon in Le cheval de vent zeigt der Regisseur sein Interesse an Reisenden in Wüstenlandschaften, Figuren auf der Suche, die drohen, sich auf ihrem Weg zu verlieren. In Tarfaya ist es eine junge Frau, die illegal nach Spanien übersetzen will und in einem kleinen Küstendorf hängen bleibt. Aulad-Syad zeichnet ein Bild der Dorgemeinschaft, in der jeder weiß, wer die Schlepper sind und wer an den Hoffnungen der bruleurs Geld verdient. Ein System der Duldung hat sich dort etabliert. Mit ungeheurer Präzision, aber einem gewissen Mangel an Spannung öffnet der Regisseur so ein Panorama der marokkanischen Gesellschaft. Im Spielfilmwettbewerb ebenfalls vertreten: Rashid Masharawis Film Attente (vgl. meinen Text zu Masharawi). Danach Bin el wedien des Tunesiers Khaled Barsaoui gesehen, der über weitere Strecken pretentieux und seifenoperhaft daherkommt. Zur Geschichte: eine Frau flieht von der eigenen Hochzeit, um mit ihrer Jugendliebe abzuhauen. Verfolgt werden sie vom wütenden Bräutigam, der in den 70ern die politischen Aktivitäten der linken, cinéphilen Hippie-Gruppe an die Polizei verraten hat. Die Musik ist fürchterlich bedeutungsschwanger und sorgte im Saal trotz schlechter Tonqualität für allgemeine Erheiterung. Amüsant auch Adaption der berühmten Flugzeug-Sequenz aus Hitchcocks North by Northwest, in der der Bräutigam das flüchtende Liebespaar in einem Hubschrauber verfolgt. Zu den Kurzfilmen: viel, was auch schon auf der Biennale zu sehen war (La Pelote de laine, Reste tranquille, Moi, ma soeur et la chose), außerdem Apres l’orage … le beau temps (vgl. 10 courts, dix regards). Und ein sehr außergewöhnlich umgesetzter Kurzfilm aus Marokko: Jardin des rides, in dem ein alter Mann mit dem Tod ringend sich mit Schuld und Vergangenheit auseinandersetzen muss. Für die Presse lief bereits Bamako, lang erwarteter neuer Film von Abderrahman Sissako. Trotz einiger Längen ein hochinteressanter Ansatz. Vor einem Tribunal in der Hauptstadt von Mali findet eine Anhörung zur Verschuldung des Staates und der Rolle der Weltbank statt. Parallel dazu montiert Sissako Ereignisse in der Umgebung des Tribunals und die Ausstrahlung eines wunderbar trashigen fiktiven Timbuktut-Westerns (mit Gastauftritten u.a. von Danny Glover und Elia Suleiman). Durch die Existenz des Tribunals und die damit einhergehende Brechung gelingt es dem Regisseur, ohne moralischen Zeigefinger Kritik am System der globalen Geldströme und am IWF zu üben. Erster Aufreger des Tages: In Yasmine Kassaris L’enfant endormi, der in der Hommage ans marokkanische Kino läuft (das im Gegensatz zum tunesischen floriert), wurde eine Szene geschnitten, in der ein Schüler seinen Lehrer fragt, was Demokratie ist. Am Abend dann drei wunderbare Entdeckungen im Video-Wettbewerb: Rencontre en ligne, ein kleiner, feiner Kurzfilm aus Burkina Faso über die Verwerfungen in einer Ehe und die wundersame Behebung der Probleme – eine einfache, gut erzählte, sympathische Geschichte, sehr stimmig und ohne viel Aufheben erzählt. Dann Sacrées Bouteilles von Fitouri Belhiba, eine Dokumentation über eine tunesischen Postbeamten aus Zarzis, der wie verrückt alles sammelt, was das Meer anspült und der aus Flaschen, Schuhen und anderem Strandgut auf seinem Dach einen riesigen Garten angelegt hat und aus den Fundstücken Ereignisse der Weltgeschichte nachgestellt hat – von Sokrates auf der Agora bis zum 11. September. Und eine sehr überzeugende Dokumentation über die amerikanische Oper Margaret Baker (Libretto von Toni Morrison). Geschickt verknüpft der Regisseur die Opernhandlung (über Sklaverei) mit der persönlichen Geschichte einer Sängerin, so dass der Film zu einer kraftvollen Stellungnahme gegen Rassismus wird. (Tagsüber liefen in der Videoreihe u.a. der Gewinner der Biennale: Beyrouth, vérités, mensonges et video und Ces filles-là, vgl. die Biennale-Texte) Und schließlich noch in der neu eingeführten Mitternachtsreihe der italienische Buongiorno Notte über die Entführung eines italienischen Politikers durch die Roten Brigaden Ende der 70er Jahre. P.S. Genauere Informationen zu Regisseuren etc pp folgen, sobald der Festival-Katalog da ist. Gespanntes Warten bei allen beteiligten, denn zur Zeit bestimmen vor allem interessant klingende Titel oder Mund-zu-Mund-Propaganda die Filmauswahl.

12.11.2006

JCC 1

11. November Zur Eröffnung gab es Indigènes zu sehen. Der neue Film von Rachid Bouchareb (Cheb, Little Senegal u. a.), der dieses Jahr in Cannes Premiere feierte, ist zurzeit der Liebling von Frankreichs Kritik und Publikum (ein der wenigen kritischen Stimmen stammt von meinem Lieblingsblogger Samir, der – kleiner Hinweis am Rande – überhaupt ganz viel Lesenswertes schreibt) und der erste Film, der sich mit der Rolle der tirailleurs im zweiten Weltkrieg beschäftigt (von den „Nachwirkungen“ erzählen u.a. auch Tasuma, le feu oder Ousmane Sembenes Camp de Thiayore). In einem entlegenen Dorf in Algerien werden die jungen Männer rekrutiert, um dann nach viel zu kurzer Ausbildung an vorderste Front geschickt zu werden. Von der versprochenen liberté, éaglité, fraternité bleibt nicht viel übrig, denn die Kolonialmacht Frankreich verheizt im Kampf gegen Nazideutschland zuerst die nordafrikanischen Soldaten, um den wenigen Überlebenden aus den ehemaligen Kolonien dann 1959 auch noch die Rente zu streichen. Indigènes, produziert unter anderem von Frankreichs bekanntem Komiker Jamel Debouzze und mit bekannten beur-Schauspielern besetzt (Debouzze, Roshdy Zem), nimmt sich eines Themas an, dass in französischen Geschichtsbüchern zu lange totgeschwiegen wurde. Vielleicht liegt genau darin das Problem des Films. Denn Indigènes ist zu oft Geschichtsstunde. Zu oft halten die Soldaten große Grundsatzreden, zu selten lässt Bouchareb sich und den Zuschauern die Zeit, die Dynamik innerhalb des Regiments zu beobachten, die kleinen Gesten, die auf Ablehnung oder Unterwerfung, Aufstiegsdenken oder Aufgeben schließen lassen. Dabei sind die wesentlich eindringlicher als viertelstündige Kampf-Sequenzen, in denen die Bedeutung der tiralleurs für den französischen Sieg und die später erfahrene Ungerechtigkeit unterstrichen werden soll. Sicher, Indigènes steckt voller guter Intentionen. Die Bedeutung des Themas macht es nicht leichter, deren filmische Umsetzung zu kritisieren.

10.11.2006

Reisefreiheit

Und wo wir gerade bei den Hinweisen sind: Online steht eine Petition von Schengen Opera, die sich für die Reisefreiheit von Künstlern und gegenWillkür bei der Visa-Vergabe einsetzt.
Dank an Africultures für den Hinweis!

Mainzer Kinokultur

Dank des CinéMayence ist, mit der für nicht-Mainstream-Filme typischen mehrmonatigen Verspätung, endlich Christoph Hochhäuslers wunderbarer Film Falscher Bekenner in der sogenannten Medienstadt Mainz zu sehen, und zwar in einer Reihe zur sogenannten Neuen Berliner Schule, die ja in letzter Zeit verschiedentlich mit Artikeln, Symposien etc bedacht wurde. Jene besagte Medienstadt kümmert sich leider wenig um die Kinolandschaft, so dass das CinéMayence mal wieder akut in seiner Existenz bedroht ist. Also: hingehen, Liste unterschreiben, protestieren! Auch wenn die Stühle nicht an die Cinestar-Sessel heranreichen können! Dafür gibt es wenn man Glück hat und früh dran ist auch mal einen guten Rotwein.

09.11.2006

JCC

Am Samstag werden die Journées Cinématographiques de Carthage eröffnet, die dieses Jahr 40 werden. Je nach Zeitplan und Internetverbindung gibt es dann hier News aus Tunis.

08.11.2006

Iklimker

Gerade auf dem Türkischen Filmfestival Frankfurt den neuen Film von Nuri Bilge Ceylan (Uzak) gesehen... Ein erster, flüchtiger Eindruck:
Iklimker (Wetterlagen, 2006) erzählt die Geschichte von Bahar (Emru Ceylan) und Isa (Nuri Bilge Ceylan). Er arbeitet an der Uni, sie ist Art Director beim Fernsehen. Die beiden haben sich schon lange von einander entfernt. An einem flirrend heißen Sommertag trennen sie sich. Isa verbringt den Herbst in Istanbul und die Stadt ist wieder so milchig grau, der Intellektuelle wieder so trüb melancholisch wie in Uzak. Im Winter findet Isa Bahar in einer verschneiten Kleinstadt wieder. Und der Frühling existiert nur in Bahars Träumen.
Es ist immer wieder beeindruckend, mit welcher Präzision Nuri Bilge Ceylan, der Orhan Pamuk des Films oder der moderne Theo Angelopoulos der Türkei, seine Filme komponiert, wie er trotz, oder gerade wegen so weniger Worte solche vielsagenden Bilder schafft. Ein wunderbar melancholischer, sehr ruhiger und detailgenauer Film über Liebe, Weltschmerz und Verlassensein.
Fotos: Festival von Cannes

07.11.2006

Iran: Frauenbilder und Regisseurinnen

Ist zwar nicht im engeren Sinne arabisch, trotzdem ein Link zu einem Artikel von mir über iranische Regisseurinnen und Frauenbilder im iranischen Film: Ein Platz in der Gesellschaft. Iranische Frauen vor und hinter der Kamera (erschienen im Film-Dienst 20/2006)

05.11.2006

Kino und Politik

Gedanken zur Arbeit des palästinensischen Regisseurs Rashid Masharawi Er wolle primär gutes Kino machen, keine Politik, sagte Rashid Masharawi in einem Interview einmal. Nur: in Palästina Filme zu machen, ohne Politik mitzudenken, wäre absurd, allenfalls als naiver Eskapismus denkbar. Also spielt das politische Geschehen in Masharawis Umgebung auch in seine Arbeit hinein: „Ce qui m’importe est d’abord de faire du bon cinéma. Le cinéma n’est pas de la politique, car il parle de l’humain et peut donc toucher tout le monde de manière universelle. On peut toujours rêver! Mais vous savez, je suis né à Gaza, je vis à Ramallah donc je suis forcément opposé à l’occupation. Et en Palestine, parler de l’humain est déjà politique. La distinction n’est donc pas évidente, c’est un équilibre difficile.“ Aber wie sieht es aus, das Verhältnis von Kunst und Politik im Werk Masharawis? Dass die Kombination von Kino und Politik, dass deutliche politische Stellungnahmen schon lange nicht mehr nur in Form von thesen-überfrachtetem cinéma militant daher kommen, hat nicht zuletzt Masharawis Landsmann Elia Suleiman in seinen absurden Überhöhungen der Realität eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Ein Hauch dieser Absurdität findet sich in Masharawis jüngstem Spielfilm L’attente (2005) wieder, einem bittersüßen Drama über die Unmöglichkeit, in der Kunst der Politik zu entgehen, über Träume und Enttäuschungen. Ein Theaterregisseur wartet in Ramallah auf die zugesagten europäischen Hilfsgelder, um ein palästinensisches Staatstheater zu bauen. Er wartet schon lange. Und ein Filmemacher, der Palästina eigentlich verlassen will, tut seinem alten Freund einen letzten Gefallen und geht in Flüchtlingscamps in Jordanien, Syrien und Libanon, um Darsteller für das zukünftige Nationaltheater zu casten. Lang sind die Schlangen und groß die Verwirrung, als sie weder Grußbotschaften an ihre Familie in Palästina senden können noch dem Regisseur keine großen Gefühle vorspielen sollen, sondern das Warten. Einfach nur warten. Wie sie es in den letzten Jahren so oft getan haben. Das Warten und die daraus resultierende Frustration stilisiert Masharawi zur Ausdrucksform einer eingeschlossenen Gesellschaft, die sich resigniert zurückzieht oder dem Frust in eruptiver Gewalt Luft macht. Masharawi zeigt Menschen, die vor lauter Warten auf den eigenen Staat nostalgisch geworden sind, die Vergangenheit glorifizieren, und deren Überlebenswille sich nur aus der Hoffnung speist, eines Tages nach Palästina zurückkehren zu können. Und gleichzeitig sind sie unfreiwillig zu Schauspielern auf der Bühne der Weltpolitik geworden, zur Verhandlungsmasse eines Staates ohne Gebiet und ohne reelle Macht. Eingeschlossen auch die Protagonisten seines Films Curfew (1993), eine Familie, die während einer nächtlichen Ausgangssperre in ihrem Haus ausharrt. Masharawi seziert den Mikrokosmos, versammelt in diesem einen Haus Alt und Jung, Männer und Frauen, Politische und weniger Politische. Kleine und große Dramen spielen sich dort ab, jeder versucht, einen Rückzugsort, ein bisschen Privatsphäre zu gewinnen und an der Ungewissheit der Situation nicht zugrunde zu gehen. Vom Mikrokosmos zum Versuch einer neuen Landvermessung in Haifa (1996), dem zweiten Spielfilm von Rashid Masharawi, der zugleich Produzent, Spiel- und Dokumentarfilmregisseur und der Leiter des Cinema Production Centers in Ramallah ist. In einem palästinensischen Flüchtlingscamp lebt Haifa, ein ehemaliger Soldat (zumindest trägt er eine Uniform), der die moderne, kriegsgeschädigte Form eines Dorfverrückten darstellt. Ein Mann, der keinerlei Orientierung mehr findet in den Irrungen und Wirrungen des Krieg und der immer neuen, erfolglosen Friedensverhandlungen, ein Mann, der in die Stadt seiner Träume, nach Haifa, nicht mehr zurückkehren kann. Stattdessen durchstreift er das Lager, ist immer als erster über die Geschehnisse informiert und fungiert als Überbringer guter wie schlechter Nachrichten. Haifa dient dem Regisseur als Figur, mit deren Hilfe er Einblicke in die Leben der anderen Camp-Bewohner geben kann, in Hochzeitsvorbereitungen, Diskussionen übers Abendessen oder Weltpolitik, in die Auseinandersetzungen über Tradition und Moderne. In seinen Spielfilmen spiegelt Masharawi die Politik im Alltäglichen, in ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Selten sind die Geschehnisse poetisch-absurd überhöht (wie bei Suleiman), vielmehr ist seinen Filmen trotz ihrer Symbolhaftigkeit ein gewisser dokumentarischer Gestus eigen. Doch während sich in der Fiktion eine gewisse maßvolle Zurückhaltung in Bezug auf politische Thesen und militante Stellungnahmen finden lässt, gerät die Balance zwischen Kunst und Politik in den Dokumentarfilmen Rashid Masharawis verloren. So geschehen etwa in seinem Porträt Arafat, mon frère (2006). Da er an den „großen“ Arafat nicht herankommt, porträtiert er den, der ihm am nächsten Stand: seinen Bruder Fathi Arafat, Arzt und Gründer des palästinensischen Roten Halbmondes. Der sterbenskranke alte Mann sitzt da, zeigt Fotos aus dem Familienalbum, erzählt Anekdoten. Und Mashrawi folgt ihm bedingungslos. Nach Paris zur Chemotherapie, zurück ins Exil nach Kairo, nach Ramallah zum Abendessen mit Yassir Arafat. Langsam entwickle er Sympathie für den alten Herren, sagt er einmal. Das ist milde ausgedrückt. Man könnte es auch bedingungslose Zustimmung nennen, so offensichtlich ist der Distanzverlust des Regisseurs, der jeder noch so belanglosen (politischen) Floskel Arafats huldigt. Welchen Anteil die Brüder Arafat an der Situation haben, die Rashid Masharawi in seinen Spielfilmen so eindrücklich schildert, ja: die wesentlicher Antrieb seiner Arbeit ist, diese Frage stellt er im Dokumentarfilm nicht.

04.11.2006

Verstimmungen zwischen Tunis und Doha

Nawaat hat das Video ins Netz gestellt, dass zu den Verstimmungen zwischen Tunesien und Qatar geführt hat. Nachdem der tunesischen Dissident Moncef Marzouki in einem Interview mit Al Jazeera zum Widerstand gegen das tunesische Regime aufgerufen hatte, hat letzteres empört seine Botschaft in Doha geschlossen.

02.11.2006

Der Mann mit den Augen

Ein Porträt des Schauspielers Ulrich Mühe
„Glaub bitte nicht in pubertärer Selbstzerfleischung, dass die Welt dich nicht liebt. Es gibt nur Übereinkünfte.“ Kalt und herablassend ist der Blick, den Ulrich Mühe seinem Film-Sohn Benny zuwirft, überheblich und des Gesprächs überdrüssig der Tonfall. Der österreichische Regisseur Michael Haneke hat einmal gesagt, er wolle in seinen Filmen die „emotionale Vergletscherung in den hochindustrialisierten Ländern“ zeigen. In den 1990er Jahren hatte diese eisige Kälte in Hanekes Filmen ein Gesicht: Ulrich Mühe, Hauptdarsteller in „Bennys Video“ (1992), „Funny Games“ (1997) und der Kafka-Adaption „Das Schloss“ (1997).
Liebe kommt in der Welt von „Bennys Video“ nicht vor. Als der Vater, ein glatter Aufsteiger, nur auf seine Karriere bedacht, erfährt, dass sein Kind gerade ein Mädchen getötet hat, bleibt das Entsetzen aus. Ohne mit der Wimper zu zucken beseitigt er die Spuren. Für Gefühle oder Zweifel ist in dieser Welt, ist auf Mühes Gesicht kein Platz. Die Fassade muss gewahrt bleiben. Nur seine Augen deuten an, dass vielleicht doch ein Mensch hinter dieser vermeintlichen Coolness steht. Unruhig suchen sie den Raum ab, verlieren sich im Nichts, in seinem Inneren, in den Gedanken.
Es wäre falsch zu glauben, Mühe könnte nur den kalten Abzocker, den Opportunisten spielen, der alles für seine Karriere tut. In „Das Schloss“ wird er in der Rolle des „K.“ Opfer des absurden Systems, in dem er sich bewegt, in „Funny Games“ ist er zur Hilflosigkeit verdammt, als er und seine Familie in ihrem Ferienhaus von zwei Unbekannten terrorisiert werden. Er erlebt die andere Seite der menschlichen Eiszeit: Mit einer gebrochenen Kniescheibe sitzt er da, bewegungsunfähig, unfähig einzugreifen, sein Gesicht verzerrt, seine Augen starr und schreckgeweitet.
Vielleicht sind es diese stahlblauen Augen, die den Schauspieler Mühe ausmachen. Sie verkörpern, was man gemeinhin Wandlungsfähigkeit nennt – oft hilfloser Ausdruck dafür, dass dieser Mann nicht greifbar ist, sich den üblichen Schemata verweigert. Denn Ulrich Mühe ist kein Charakterkopf, kein Haudegen, kein Casanova. Auf den ersten Blick erscheint er glatt und vollkommen harmlos, zurückhaltend, ja fast ein bisschen blass. Mühe ist keiner, der sich in den Vordergrund spielen muss. Doch hinter dieser Oberfläche, die so undurchdringlich wirkt, an der alles abzuprallen scheint, da kommt etwas zum Vorschein: eine Ahnung von Sensibilität, von Sanftmut und Menschlichkeit. Und eine unvermutete Kraft, eine enorme Präzision der Gesten, der Mimik, der Blicke. Genau dieses Spiel mit der Oberfläche, mit der Divergenz zwischen erstem Eindruck und dem Menschen dahinter, das hat Ulrich Mühe in seiner Schauspielerkarriere perfektioniert.
Geboren 1953 im sächsischen Grimma begann er nach einer Ausbildung als Baufacharbeiter mit 22 Jahren an der Hochschule „Hans Otto“ in Leipzig sein Schauspielstudium. Dort wurde er 1982 von Heiner Müller entdeckt und für dessen „Macbeth“-Inszenierung an die Berliner Volksbühne geholt – ein Glücksfall für Mühe, denn die Arbeit mit dem großen Dramatiker legte den Grundstein für seine Bühnenkarriere, die ihn vom Deutschen Theater in Berlin bis nach Hamburg und ans renommierte Wiener Burgtheater führte.
Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis das Ausnahmetalent Mühe auch ins Kino kam. Wo sonst ließen sich seine Schauspielkunst, die feinen Nuancen seiner Mimik, die kurz zuckende Augenbraue oder der verkniffene Mund so genau beobachten wie auf der Leinwand. Nach kleineren Film- und Fernsehrollen in der DDR verkörperte Mühe in Bernhard Wickis „Das Spinnennetz“ (1989) den Leutnant Lohse. Für seine Interpretation des skrupellosen und opportunistischen Aufsteigers in der Weimarer Republik, der in unterschiedlichste Rollen schlüpft und vor nichts zurückschreckt, um seine Karriere zu befördern, erhielt Mühe internationale Anerkennung und den ersten Bayerischen Filmpreis seiner Karriere. Der zweite folgte in diesem Jahr für die Rolle eines Stasi-Agenten in „Das Leben der Anderen“.
Im Gegensatz zu vielen anderen ostdeutschen Schauspielern, die nach der Wende um Engagements kämpfen mussten, konnte Ulrich Mühe seine Karriere auf Bühne und Leinwand in den unterschiedlichsten Rollen nahtlos fortsetzen. Er spielte in Komödien und Krimis, Kinderfilmen und Dramen, war der sensationshungrige Chefredakteur in Helmut Dietls Mediensatire „Schtonk“ (1992), der Familienvater in der Komödie „Rennschwein Rudi Rüssel“(1995), der Gerichtsmediziner in der preisgekrönten ZDF-Krimiserie „Der letzte Zeuge“ und der KZ-Arzt Josef Mengele in Constantin Costa-Gavras’ internationaler Großproduktion „Amen“ (2002), einer Verfilmung von Rolf Hochhuths Roman „Der Stellvertreter“. Josef Mengele, das ist einer jener „Männer die gelernt haben, ihr Gewissen zu unterdrücken“, wie er im Film einmal sagt. Da gibt Ulrich Mühe wieder so einen eiskalten Aufsteiger-Typ, wie wir ihn schon aus „Bennys Video“ oder „Das Spinnennetz“ kennen.
Doch trotz unzähliger Filmengagements hat sich der Träger der Helene-Weigel-Medaille nie von seinen Wurzeln, vom Theater verabschiedet. 2005 inszenierte er „Im Auftrag“, ein Stück seines Mentors und Förderers Heiner Müller bei den Wiener Festwochen. Aber nicht nur als Regisseur wandet er sich wieder dem Theater zu, auch als Schauspieler war er wieder vermehrt auf der Bühne anzutreffen, zum Beispiel in Yasmina Rezas Kult-Stück „Drei Mal Leben“. Dort spielte er an der Seite seiner Frau Susanne Lothar, mit der er seit 1997 verheiratet ist. Ohne die Schauspielerei geht es bei dem Wahl-Berliner eben auch privat nicht. In erster Ehe war er mit der Schauspielerin Jenny Gröllmann verheiratet, die gemeinsame Tochter, Anna Maria Mühe, ist ebenfalls eine Erfolg versprechende Nachwuchsschauspielerin.
Seinen letzten ganz großen Triumph hatte der zurückhaltende Mime kürzlich in „Das Leben der Anderen“. Der Film über ein Künstlerpaar in der DDR entwirft eine Welt, die Ulrich Mühe selbst nur zu vertraut ist. Seine Ex-Frau sei selbst Informelle Mitarbeiterin der Stasi gewesen, behauptete Mühe in einem Interview. Laut sagen darf er das inzwischen aber nicht mehr, beschloss das Berliner Landgericht Anfang Juli nach einer Klage Gröllmanns. Die Schauspielerin bestritt bis zu ihrem Tod vehement, IM „Jeanne“ gewesen zu sein. Das Gericht räumte immerhin ein, es gäbe „Verdachtsmomente“ gegen Mühes Ex-Frau. Die Wahrheit wird wahrscheinlich nie ans Licht kommen.
Wie dem auch sei: Im Film ist es Ulrich Mühe selbst, der zunächst auf Seiten der Machthaber steht. Doch je länger er als linientreuer Stasi-Agent Gerd Wiese ein oppositionelles Paar aus der Theaterszene observiert, desto mehr entwickelt er sich zum kritisch denkenden Menschen, bis er sich schließlich auf die Seite der Künstler und gegen das DDR-Regime stellt. Wieder so ein Film, wo Innen- und Außenwelt auseinanderklaffen, ein Film über öffentliche Rollen, Masken und Fassaden – wieder so ein Film für den Mann mit den außergewöhnlichen Augen. Foto: DW