16.08.2006

Elle et Lui

Eins vorneweg: bei diesem Film sollte man alles aus seinem Kopf streichen, was einem zu tunesischem Film einfällt. Elle et lui ist anders, mutig, radikal. Die Zeiten des folkloristischen Betroffenheitsfilms, dessen Ende andere schon angekündigt haben, sind mit diesem Film nun endgültig vorbei. Die Ausgangssituation: Zwei namenlose Figuren, ein Mann (Mohamed Ali Ben Jemaa) und eine Frau (Anissa Daoud), eine Wohnung, eine Nacht. Glaubt man zumindest. Sie klingelt, er öffnet die Tür. Ein Dialog beginnt, obwohl „Dialog“ eigentlich das falsche Wort ist. Denn eigentlich können diese Figuren nicht kommunizieren, zumindest nicht über Worte. Was sich in den 80 Minuten dieses Films abspielt, ist ein Machtspiel zwischen den Figuren. Am Anfang ist er es, der den Fortgang bestimmt. Doch langsam ändern sich die Machtverhältnisse, und mit ihnen bewegen sich die Figuren durch die verschiedenen Zimmer, ändern sich die Farben ihrer Kleidung. Und dann gewinnt sie die Oberhand, bringt ihn dazu, Klimmzüge zu machen, zu bellen, auf allen Vieren durch die Wohnung zu kriechen. Der Debütfilm von Elyes Baccar (der schon mit seinen außergewöhnlichen Kurzfilmen wie L'impasse du temps perdu aufgefallen war), eine low-budget-Produktion für lächerliche 10 000 Euro, stellt sich quer zu allen herkömmlichen Kategorien der Klassifizierung. Das Dekor erinnert an Wong Kar-Wais In the mood for love, der huis clos an die Filme des tunesischen Nouveau Theatre, ebenso finden sich Elemente des Tanztheaters und der Malerei wieder, und die Musik von Sofyann Ben Youssef erzeugt eine außergewöhnliche Spannung, ohne sich dabei jemals in den Vordergrund zu drängen. Und immer wieder muss man an Fassbinder denken, an die Gewalt und die Wut, die sich nicht entlädt, sondern implodiert. Elle et Lui ist das Leiden an der Welt, in der man lebt, in der es keine Lösungen gibt, in der Raum nur als Begrenzung erfahrbar ist, in der die Spannung der Außenwelt die Innenwelt beeinflusst und die Figuren an den Rand einer Psychose treibt. Ein stummer Schrei. Er habe beim Schreiben nicht daran gedacht, einen politischen Film zu drehen, sagt der Regisseur. Und doch ist es einer geworden, ein Film, der nicht von der Politik spricht, sondern von der Unfähigkeit, über Politik zu sprechen, von der Unfähigkeit, zu erzählen. Ein, zwei Mal versuchen die Figuren es, und da fällt der Blick auf eine Zeitung, die halb aufgeschlagen auf einem Tisch liegt, zwischen Büchern, die keine Erklärungen mehr bieten können: „Le secret Ben“ ist dort nur zu lesen. Es könnte Ben Laden sein, es könnte aber auch Ben Ali sei. Vielleicht ist dieses Enigma „Ben“ der Schlüssel, des Rätsels Lösung.
Elle et Lui (Hiya wa howa, Elyes Baccar, Tun 2004, 80 min)
Ein ausführlicherer Text findet sich auf Africiné.

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