31.10.2006

Krieg und Frieden

Ein Regisseur, zwei Filme, Differenzen und Gemeinsamkeiten – „Terra Incognita“ und „Das Phantom von Beirut“ von Ghassan Salhab Auf den ersten Blick könnten die Filme von Ghassan Salhab verschiedener nicht sein. Da ist einmal Terra Incognita, realistisches, beinahe dokumentarisch anmutendes Porträt einiger Mittdreißiger in Beirut, und Das Phantom von Beirut, von absolutem Stilwillen geprägte Neuinterpretation des Nosferatu-Stoffes. Was ihnen gemeinsam ist, ist die Zustandsbeschreibung einer Stadt, einer Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg: Menschen zwischen Vergangenheit und Wiederaufbau. Der politische und historische Hintergrund bleibt freilich immer nur Subtext. Nichts läge dem 1958 in Dakar, Senegal geborenen und in Paris und Beirut lebenden Regisseur ferner, als in seinen Filmen kluge Thesen zu verbreiten. Die braucht es nicht, um Salhabs Anliegen oder die Protagonisten seiner Filme zu verstehen.
Terra Incognita wird zur Suchbewegung, zur Vermessung eines Landes im Umbruch, das die Kinder des Bürgerkriegs sich erst wieder aneignen, dass sie er-fahren, re-konstruieren, neu betrachten müssen, und in dem die Zeit doch stillzustehen scheint für diejenigen, die mittendrin sind. Ein Architekt, der permanent am Computer sitzt, Flächen vermisst, Gebäude entwirft, die eines Tages auf den Ruinen stehen sollen. Und eine Fremdenführerin, die sich ebenfalls zwischen den Überresten vergangener Zivilisationen bewegt, zwischen antiken römischen und jungen libanesischen Trümmerfeldern. Ein Nachrichtensprecher, der im Radio scheinbar monoton und unbeteiligt von kleinen und großen Umbrüchen in seinem Land und der Welt berichtet. Ein Rückkehrer, der mit dem Unverständnis seiner Freunde konfrontiert wird und sich fragt, wieso er eigentlich zurückgekommen ist. Alle wirken sie verloren im Moloch Beirut, wissen die Wegweiser der Zeit nicht zu lesen, sich an den Kreuzungen des Lebens nicht zu entscheiden.
Auch der Arzt Khalil erfährt in Das Phantom von Beirut die Straßen der Metropole. Tag für Tag findet der Mediziner neue Leichen auf seinem Seziertisch. Jung und schön sind sie, die Menschen, deren Körper mit einer Bisswunde am Hals ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mit der gleichen Lakonie wie in Terra Incognita seziert Ghassan Salhab die Befindlichkeit der libanesischen Hauptstadt. Kalt und klinisch rein wirken die endlosen Gänge an Khalils Arbeitsplatz. Bald bemerkt der passionierte Taucher, wie sich sein Körper verändert und er empfindlich auf Tageslicht reagiert. Den Ansprüchen seiner Freunde will er nicht mehr gerecht werden, die Stadt und der Alltag scheinen ihn zu überfordern. Nachts durchstreift er jedoch die Straßen, auf der Suche nach dem Phantom. Das Phantom von Beirut ist weit mehr als eines der unzähligen Nosferatu-Remakes, es ist eine Parabel, eine Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft. Will Michael Haneke, wie er einmal sagte, die „emotionale Vergletscherung in den hochindustrialisierten Ländern“ zeigen, Ghassan Salhab tut dies im Libanon, zeigt wie der Jugend voller Präzision das Leben genommen wird. Das Perfide daran: keines der Opfer scheint sich gewehrt zu haben, an ihren Körpern finden sich keine Spuren der Gegenwehr, nur ein einziger, präziser Biss an ihrem Hals, wie ein Liebesmahl.
Diese Stadt, die der Regisseur in seinen Filmen zeigte, existiert so nicht mehr, ihre Überreste, ihre Erinnerungen und Verletzungen sind erneut zu Trümmern geworden, zu einer weiteren Schicht der Ruinen, in denen sich Ghassan Salhab mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt. Und es scheint sicher, dass er sich auch den Auswirkungen der jüngsten Ereignisse mit jenem für ihn typischen unaufgeregten, behutsamen und dennoch präzisen Gestus nähern wird. Terra Incognita, Libanon 2002, 110 Min Das Phantom von Beirut, Libanon 2004, 101 Min

20.10.2006

No Man's Love

Wunderbarer Film von Nidhal Chatta, mein Text dazu hier.

JCC -2-

Öfter Mal einen Blick auf die Homepage der im 40.Jahr stattfindenden JCC zu werfen lohnt sich: inzwischen stehen (bis auf die tunesischen Filme) die Wettbewerbsbeiträge sowohl für Film (kurz und lang, beides sehr arabisch-lastig) als auch für Video (kurz und lang) fest, außerdem das Programm der beiden letzten Hommages (Südkorea und Lateinamerika) sowie die Besetzung der Jurys...

14.10.2006

JCC

Das Programm der Journées Cinématographiques de Carthage (11.-18.11.06) steht zwar noch nicht, aber die Hommages, die dieses Mal sehr ägyptisch ausfallen. Da wäre zum einen Nagib Mahfuz und das Kino, mit folgenden Filmen: Entre ciel et terre de Salah Abou Seif (1959) Entre les châteaux de Hassan al-Imam (1964) Le Caire 30 de Salah Abou Seif (1966) Le mirage de Anouar al-Chinnawy (1970) La faim de Ali Badrakhan (1986) Au cœur de la nuit de Atef al-Tayyeb (1989) Und zum anderen eine Hommage an Yousri Nasrallah: Vols d'été (1987) Mercédès (1993) A propos des garçons, des filles et du voile (1995) La ville (1999) La porte du soleil (2002) Den Jury-Vorsitz werden übrigens Elias Khoury (Film) und Idrissou Mora-Kpai (Video) haben. Alles weitere dann beizeiten hier und während des Festivals direkt aus Tunis...

13.10.2006

"Corps-Otages" zensiert

Es hatte sich schon abgezeichnet: nachdem sich die Zensurkommission drei Monate Zeit gelassen hatte ist es jetzt raus: Corps-Otages (Khamsoun), neues Stück von Jalila Baccar in der Regie von Fadhel Jaibi, das im Juni erfolgreich am Odéon in Paris gezeigt wurde, ist zensiert. Wie IFEX berichtet verlangen die Behörden von Jaibi, dass er das Stück mit einer Liste von 100 Themen in Einklang bringe, um die Freigabe zur öffentlichen Aufführung in Tunesien zu erhalten...

10.10.2006

Dokumentarfilmfestival Leipzig - 2

Die Programmauswahl des Schwerpunkts Arabischer Dokumentarfilm ist da:
A Flood in Baath Country (Tufan fi Balad el-Ba'th) von Omar Amiralay Syrien/Frankreich 2003 46 min.
A Stranger in Her Own City von Khadeeja Al-Salami Frankreich/Jemen 2005 21 min.
Baghdad Days von Hiba Bassem Irak 2005 35 min.
Beirut Diaries: Truth, Lies and Video von Mai Masri Libanon 2006 76 min.
Blue-Grey Azrak-ramadi von Mohamad Al-Roumi Syrien/Frankreich 2004 23 min.
From Beirut to ... those who love us von Beirut DC Libanon 2006 5 min.
I Desperately Need You von Eliane Raheb Libanon 2005 2 min.
I See The Stars At Noon (Bashoof El-Najoom Fe 'Izz El-Dhuhr) von Saeed Taji Farouky Marokko/Vereinigtes Königreich 2004 57 min.
Kings and Extras. Digging For a Palestinian Image von Azza El Hassan Palästina/Deutschland 2004 62 min.
Planet of the Arabs von Jacqueline Salloum USA 2005 9 min.
Rainbow von Abdel Salam Shehadeh Palästina 2004 40 min.
Road Beyond Sunset (Par delà le coucher) von Bassem Fayad Libanon 2004 52 min.
Suicide (Intihar) von Eliane Raheb Libanon 2003 26 min.
Take Me (Ghaeir Khodoni) von Tamer El Said Ägypten/Vereinigte Arabische Emirate 2004 53 min.
The Place I Call Home von Tamer Ezzat Ägypten 2005 62 min.
Women without Shadows von Haifaa Al-Mansour Saudi-Arabien 2005 45 min.
You, Waguih (Toi, Waguih) von Namir Abdel Messeeh Frankreich 2005 29 min.

03.10.2006

10 Courts, Dix Regards

Während die tunesische Langfilmszene seit einigen Jahren vor sich hin dümpelt, tut sich in der traditionell sehr aktiven Kurzfilm-Szene einiges. Jüngstes Projekt ist 10 Court, Dix Regards des Produzenten und Regisseurs (Visa) Brahim Letaief. Seine Produktionsfirma Long & Court hat die Initiative ergriffen und zunächst zehn jungen RegisseurInnen die Möglichkeit gegeben, unter professionellen Bedingungen zu drehen. Neben einigen bekannten Technikern sammeln sich in den Filmen auch viele gut bekannte Gesichter des tunesischen Films: Fatma Ben Saidane, Lotfi Abdelli, Fares Naanaa und Ahmed Hafiane, um nur einige zu nennen. Die fünf ersten Filme liegen jetzt vor und hatten beim in Cannes Premiere. Ihre Regisseure: ebenfalls keine Unbekannten, sondern junge Leute, die sich in der zugegeben überschaubaren tunesischen Film- und Kunstszene einen Namen gemacht haben, sei es als Schauspieler, Drehbuchautor oder Künstler. So unterschiedlich die Personen hinter den Filmen, so vielfältig auch Themen und Stile. Schauspielerin Amel Smaoui (u.a. La Villa, Poupées d’argile) erzählt in Il faut que je leur dise auf humorvolle Weise den Umgang mit einem Tabuthema, Leyla Bouzid und Walid Mattar (Regisseur des wunderbaren Amateur-Kurzfilms Le Cuirassé Abdelkrim, der in Tunesien Kultstatus hat) inszenieren in Sbah El Khir mit großer Sorgfalt und Detailverliebtheit (wenn auch phasenweise etwas manieristisch) Jacques Preverts Gedicht Dejeuner du matin. In Train Train beobachtet Taoufik Behi Alltag und Fantasien eines ungleichen Ehepaares zwischen Zuneigung und Hass. Après l’orage… le beau temps von Afef Ben Mahmoud zeigt eine Frau mit einem eigentlich sehr alltäglichen und menschlichen kleinen Bedürfnis. Ihr Problem: sie sitzt im Auto auf einer Landstraße – wohin, wenn frau in Tunesien aufs Klo muss? Auch Walid Tayaâ nimmt sich in Madame Bahja einem dieser kleinen Dinge an, die zunächst bedeutungslos erscheinen, doch auf einmal eine ungeahnte Dimension erreichen. Auf Leben und Tod kämpft eine Hypochonderin mit der Plastikverpackung ihres Krankenhausessens. Mit Spannung erwartet: die restlichen fünf Filme dieser Initiative. Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht die letzten sein werden!