13.11.2006

JCC -2-

12. November Sonntag geht es richtig los. Im Wettbewerb war am ersten Publikumstag Bled Number One, wunderbarer zweiter Spielfilm des Frankoalgeriers Rabah Ameur-Zaimeche (Wesh wesh, qu’est ce qui se passe?), zu sehen, in dem er sich auf Entdeckungsreise ins Land seiner Eltern begibt (siehe meinen Text à propos). Außerdem Tarfaya des Marokkaners Daoud Aulad-Syad. Wie schon in Le cheval de vent zeigt der Regisseur sein Interesse an Reisenden in Wüstenlandschaften, Figuren auf der Suche, die drohen, sich auf ihrem Weg zu verlieren. In Tarfaya ist es eine junge Frau, die illegal nach Spanien übersetzen will und in einem kleinen Küstendorf hängen bleibt. Aulad-Syad zeichnet ein Bild der Dorgemeinschaft, in der jeder weiß, wer die Schlepper sind und wer an den Hoffnungen der bruleurs Geld verdient. Ein System der Duldung hat sich dort etabliert. Mit ungeheurer Präzision, aber einem gewissen Mangel an Spannung öffnet der Regisseur so ein Panorama der marokkanischen Gesellschaft. Im Spielfilmwettbewerb ebenfalls vertreten: Rashid Masharawis Film Attente (vgl. meinen Text zu Masharawi). Danach Bin el wedien des Tunesiers Khaled Barsaoui gesehen, der über weitere Strecken pretentieux und seifenoperhaft daherkommt. Zur Geschichte: eine Frau flieht von der eigenen Hochzeit, um mit ihrer Jugendliebe abzuhauen. Verfolgt werden sie vom wütenden Bräutigam, der in den 70ern die politischen Aktivitäten der linken, cinéphilen Hippie-Gruppe an die Polizei verraten hat. Die Musik ist fürchterlich bedeutungsschwanger und sorgte im Saal trotz schlechter Tonqualität für allgemeine Erheiterung. Amüsant auch Adaption der berühmten Flugzeug-Sequenz aus Hitchcocks North by Northwest, in der der Bräutigam das flüchtende Liebespaar in einem Hubschrauber verfolgt. Zu den Kurzfilmen: viel, was auch schon auf der Biennale zu sehen war (La Pelote de laine, Reste tranquille, Moi, ma soeur et la chose), außerdem Apres l’orage … le beau temps (vgl. 10 courts, dix regards). Und ein sehr außergewöhnlich umgesetzter Kurzfilm aus Marokko: Jardin des rides, in dem ein alter Mann mit dem Tod ringend sich mit Schuld und Vergangenheit auseinandersetzen muss. Für die Presse lief bereits Bamako, lang erwarteter neuer Film von Abderrahman Sissako. Trotz einiger Längen ein hochinteressanter Ansatz. Vor einem Tribunal in der Hauptstadt von Mali findet eine Anhörung zur Verschuldung des Staates und der Rolle der Weltbank statt. Parallel dazu montiert Sissako Ereignisse in der Umgebung des Tribunals und die Ausstrahlung eines wunderbar trashigen fiktiven Timbuktut-Westerns (mit Gastauftritten u.a. von Danny Glover und Elia Suleiman). Durch die Existenz des Tribunals und die damit einhergehende Brechung gelingt es dem Regisseur, ohne moralischen Zeigefinger Kritik am System der globalen Geldströme und am IWF zu üben. Erster Aufreger des Tages: In Yasmine Kassaris L’enfant endormi, der in der Hommage ans marokkanische Kino läuft (das im Gegensatz zum tunesischen floriert), wurde eine Szene geschnitten, in der ein Schüler seinen Lehrer fragt, was Demokratie ist. Am Abend dann drei wunderbare Entdeckungen im Video-Wettbewerb: Rencontre en ligne, ein kleiner, feiner Kurzfilm aus Burkina Faso über die Verwerfungen in einer Ehe und die wundersame Behebung der Probleme – eine einfache, gut erzählte, sympathische Geschichte, sehr stimmig und ohne viel Aufheben erzählt. Dann Sacrées Bouteilles von Fitouri Belhiba, eine Dokumentation über eine tunesischen Postbeamten aus Zarzis, der wie verrückt alles sammelt, was das Meer anspült und der aus Flaschen, Schuhen und anderem Strandgut auf seinem Dach einen riesigen Garten angelegt hat und aus den Fundstücken Ereignisse der Weltgeschichte nachgestellt hat – von Sokrates auf der Agora bis zum 11. September. Und eine sehr überzeugende Dokumentation über die amerikanische Oper Margaret Baker (Libretto von Toni Morrison). Geschickt verknüpft der Regisseur die Opernhandlung (über Sklaverei) mit der persönlichen Geschichte einer Sängerin, so dass der Film zu einer kraftvollen Stellungnahme gegen Rassismus wird. (Tagsüber liefen in der Videoreihe u.a. der Gewinner der Biennale: Beyrouth, vérités, mensonges et video und Ces filles-là, vgl. die Biennale-Texte) Und schließlich noch in der neu eingeführten Mitternachtsreihe der italienische Buongiorno Notte über die Entführung eines italienischen Politikers durch die Roten Brigaden Ende der 70er Jahre. P.S. Genauere Informationen zu Regisseuren etc pp folgen, sobald der Festival-Katalog da ist. Gespanntes Warten bei allen beteiligten, denn zur Zeit bestimmen vor allem interessant klingende Titel oder Mund-zu-Mund-Propaganda die Filmauswahl.

1 Kommentar:

orcival hat gesagt…

Bled Number One:
uiuiui lang ersehnt. "weshwesh..." war ja doch eine sehr angenehme abwechslung von der schlechten angewohnheit in d "la haine" zu gucken und sich dann fuer informiert zu halten.

"buongiorno, notte": wenn ich dich konkretisieren darf, es ist aldo moro der da entfuehrt wird und der "fall moro" ist ein ganz wichtiges kapitel in der entwicklung der ausserparlamentarischen (was fuer ein wort!) linken in italien und ausserdem - wenn mir der weitere hinweis erlaubt ist - ein toller film, den diese idioten von deutschen verleihern nie wirklich ins kino gebracht haben, der aber auf eine guten dvd-edition vorliegt. zusammen mit einer sehr sehenswerten doku von bellocchio...
weiterhin gruesse in die beneidenswerte ferne...