04.08.2006

8. Biennale des cinémas arabes (V)

Der Dokumentarfilmwettbewerb (lang) Lamine, la fuite (Algerien/Frankreich 2005) porträtiert einen algerischen Mit-Dreißiger, einen modernen Omar Gatlato, der von nichts mehr träumt, als nach Frankreich zu gehen. Heiraten, arbeiten – all das interessiert ihn nicht. Doch Frankreich ist weit, zumindest mit einem algerischen Pass. Samia Chala begleitet Lamine in den Straßen und Cafés von Algier. Samia Chala hat für ihren Dokumentarfilm eine Figur ausgewählt, die genau dem entspricht, was man als europäischer Zuschauer erwartet. Er kennt das Land seiner Träume nur aus dem Fernsehen und entbehrt jeglicher Reflexion. Algerien hat für ihn nur negative Seiten. Doch statt dieses Bild aufzubrechen, zu hinterfragen, folgt Chala ihm bedingungslos. Differenzierter kommt Amina ou la confusion des sentiments (Laurette Mokrani, Algerien/Frankreich 2005) daher, Porträt eines algerischen Teenagers. Vor dem Bürgerkrieg geflohen lebt sie mit ihrer Familie in Frankreich. Sie ist intelligent, erfolgreich und hat ein unglaubliches Reflexionsvermögen. Ihr Leben wäre wohl perfekt, wären da nicht die schrecklichen Erinnerungen an den Bürgerkrieg, die sie immer wieder heimsuchen. Und das Heimweh. Mokrani zeichnet ein bewegendes Porträt eines jungen Mädchen, hin- und hergerissen zwischen zwei Ländern, zwischen Freiheit und Familienbande. Eine eindeutig politische Entscheidung war wohl der Preis für Rashid Mashrawis Arafat, mon frère (Palästina/Frankreich/Kanada). Da er an den „großen“ Arafat nicht herankommt, porträtiert er den, der ihm am nächsten Stand: seinen Bruder Fathi Arafat, Arzt und Gründer des palästinensischen Roten Halbmondes. Der sterbenskranke alte Mann sitzt da, zeigt Fotos aus dem Familienalbum, erzählt Anekdoten. Und Mashrawi (Haifa, Curfew) folgt ihm bedingungslos. Nach Paris zur Chemotherapie, zurück ins Exil nach Kairo, nach Ramallah zum Abendessen mit Yassir Arafat. Nur einmal verliert er die Orientierung und dreht ein Making Off seines eigenen Films Attente/Casting in Palästina. Langsam entwickle er Sympathie für den alten Herren, sagt er einmal. Das ist milde ausgedrückt. Man könnte es auch bedingungslose Zustimmung nennen, so offensichtlich ist der Distanzverlust des Regisseurs, der jeder noch so belanglosen (politischen) Floskel Arafats huldigt. In Retour au pays des merveilles (Irak/GB 2004) erkundet Maysoon Pachachi nach über 30 Jahren Exil das Baghdad, wo sie ihre Kindheit verbracht hat. Viel hat sich seitdem verändert, vor allem kann sie jetzt, direkt nach dem Krieg kaum alleine auf die Straße. Pachachis über 80-jähriger Vater, früherer Botschafter Iraks, ist Mitglied der Übergangsregierung und arbeitet in Baghdad am neuen Verfassungsentwurf. Beyrouth: vérités, mensonges et vidéos (Mai Masri, Palästina/Libanon 2006) zeigt den Libanon nach dem Mord an Premier Rafiq Hariri. Am Platz der Martyrer steht ein Camp verschiedener zivilgesellschaftlicher und politischer Gruppierungen. Drei Monate harren sie dort aus, diskutieren, hoffen, überzeugen, demonstrieren. Mai zeigt das Entstehen neuer gesellschaftlicher Allianzen jenseits religiöser Gräben, folgt vor allem einer jungen Frau, Nadine, die feststellen muss, wie sich ihre Hoffnung, ihr Enthusiasmus im Sand verläuft, in den Mühlen der Politik. Am Ende hat sich ihr Land nur wenig verändert, aber die junge Aktivistin ist eine andere geworden. Depuis que tu n’es plus là (Palästina 2005) ist eine Hommage des palästinensischen Schauspielers Mohammd Bakri (u.a. Haifa) an seinen Mentor, den Intellektuellen und Schriftsteller Emile Habibi. Um mit dessen Tod umgehen zu können, geht er zu dessen Grab und erzählt ihm, wie sich die Welt verändert. Und sie verändert sich gewaltig. Als Bakri gerade mit der israelischen Justiz um die Freigabe seines Film Jenine, Jenine kämpft, ereignet sich ein Selbstmordanschlag. Daran beteiligt: zwei Cousins von Bakri. Außergewöhnlich offen geht der Schauspieler mit diesem dunklen Teil in seinem Leben um. Zunehmend von den Strapazen gezeichnet, von den Anfeindungen, Boykottaufrufen, Hetzkampagnen von Teilen der israelischen Presse und dem Gerichtsverfahren um seinen Film macht Bakri bestimmt keinen objektiven Film, dazu ist er viel zu persönlich, Bakris Schicksal zu sehr mit dem seines Heimatlandes verknüpft. Aber sein Wert liegt darin, dass er schonungslos und ehrlich auch dem engsten eigenen Umfeld gegenübertritt.

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