Ein Regisseur, zwei Filme, Differenzen und Gemeinsamkeiten – „Terra Incognita“ und „Das Phantom von Beirut“ von Ghassan Salhab
Auf den ersten Blick könnten die Filme von Ghassan Salhab verschiedener nicht sein. Da ist einmal Terra Incognita, realistisches, beinahe dokumentarisch anmutendes Porträt einiger Mittdreißiger in Beirut, und Das Phantom von Beirut, von absolutem Stilwillen geprägte Neuinterpretation des Nosferatu-Stoffes. Was ihnen gemeinsam ist, ist die Zustandsbeschreibung einer Stadt, einer Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg: Menschen zwischen Vergangenheit und Wiederaufbau. Der politische und historische Hintergrund bleibt freilich immer nur Subtext. Nichts läge dem 1958 in Dakar, Senegal geborenen und in Paris und Beirut lebenden Regisseur ferner, als in seinen Filmen kluge Thesen zu verbreiten. Die braucht es nicht, um Salhabs Anliegen oder die Protagonisten seiner Filme zu verstehen.
Terra Incognita wird zur Suchbewegung, zur Vermessung eines Landes im Umbruch, das die Kinder des Bürgerkriegs sich erst wieder aneignen, dass sie er-fahren, re-konstruieren, neu betrachten müssen, und in dem die Zeit doch stillzustehen scheint für diejenigen, die mittendrin sind. Ein Architekt, der permanent am Computer sitzt, Flächen vermisst, Gebäude entwirft, die eines Tages auf den Ruinen stehen sollen. Und eine Fremdenführerin, die sich ebenfalls zwischen den Überresten vergangener Zivilisationen bewegt, zwischen antiken römischen und jungen libanesischen Trümmerfeldern. Ein Nachrichtensprecher, der im Radio scheinbar monoton und unbeteiligt von kleinen und großen Umbrüchen in seinem Land und der Welt berichtet. Ein Rückkehrer, der mit dem Unverständnis seiner Freunde konfrontiert wird und sich fragt, wieso er eigentlich zurückgekommen ist. Alle wirken sie verloren im Moloch Beirut, wissen die Wegweiser der Zeit nicht zu lesen, sich an den Kreuzungen des Lebens nicht zu entscheiden.
Auch der Arzt Khalil erfährt in Das Phantom von Beirut die Straßen der Metropole. Tag für Tag findet der Mediziner neue Leichen auf seinem Seziertisch. Jung und schön sind sie, die Menschen, deren Körper mit einer Bisswunde am Hals ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mit der gleichen Lakonie wie in Terra Incognita seziert Ghassan Salhab die Befindlichkeit der libanesischen Hauptstadt. Kalt und klinisch rein wirken die endlosen Gänge an Khalils Arbeitsplatz. Bald bemerkt der passionierte Taucher, wie sich sein Körper verändert und er empfindlich auf Tageslicht reagiert. Den Ansprüchen seiner Freunde will er nicht mehr gerecht werden, die Stadt und der Alltag scheinen ihn zu überfordern. Nachts durchstreift er jedoch die Straßen, auf der Suche nach dem Phantom. Das Phantom von Beirut ist weit mehr als eines der unzähligen Nosferatu-Remakes, es ist eine Parabel, eine Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft. Will Michael Haneke, wie er einmal sagte, die „emotionale Vergletscherung in den hochindustrialisierten Ländern“ zeigen, Ghassan Salhab tut dies im Libanon, zeigt wie der Jugend voller Präzision das Leben genommen wird. Das Perfide daran: keines der Opfer scheint sich gewehrt zu haben, an ihren Körpern finden sich keine Spuren der Gegenwehr, nur ein einziger, präziser Biss an ihrem Hals, wie ein Liebesmahl.
Diese Stadt, die der Regisseur in seinen Filmen zeigte, existiert so nicht mehr, ihre Überreste, ihre Erinnerungen und Verletzungen sind erneut zu Trümmern geworden, zu einer weiteren Schicht der Ruinen, in denen sich Ghassan Salhab mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt. Und es scheint sicher, dass er sich auch den Auswirkungen der jüngsten Ereignisse mit jenem für ihn typischen unaufgeregten, behutsamen und dennoch präzisen Gestus nähern wird.
Terra Incognita, Libanon 2002, 110 Min
Das Phantom von Beirut, Libanon 2004, 101 Min
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