31.12.2006

VHS Kahloucha

... ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher Film, der nicht nur einen Blick auf einen zugegeben etwas skurrilen tunesischen Amateur-Filmemacher und sein soziales Umfeld wirft, sondern auch eine Geschichte über Medien, ihre Einflüsse, Wirkung und Spiegelung. Und deshalb gibt es hier auch mal einen Hinweis auf die mediale Promotion des Films via Website und den Blog seines Regisseurs Nejib Belkadhi. Der Film hat übrigens vor kurzem das Festival von Dubai gewonnen und wird auf dem Sundance zu sehen sein.

Africa Alive

Ich möchte nur kurz auf das Programm des Africa Alive-Festivals in Frankfurt/Main hinweisen, das vom 19. Januar bis 4. Februar stattfindet - mit wie immer einigen interessanten Filmen und Gästen, dieses Jahr unter anderem Abderrahman Sissako.

16.12.2006

Africultures gibt Archive frei

Das ist doch mal eine schöne Nachricht: Die Dossiers von Africultures, die es bis jetzt nur in der Printausgabe oder online gegen Bezahlung gab, sind jetzt auch online kostenlos (ab einem Jahr nach Veröffentlichungsdatum). Also viel zu lesen in nächster Zeit - danke dir, Olivier!

Gute und schlechte Nachrichten aus Tunis...

... beide gefunden im Blog von Nadia From Tunis. Die gute: Fadhel Jaibi sagte in einem Interview mit MosaiqueFM, dass Corps Otages voraussichtlich Anfang 2007 ohne Veränderungen in Tunis zu sehen sein wird. Offenbar hat sich nach einem klärenden Gespräch und öffentlichem Druck das Kulturministerium bereiterklärt, auf die 285 (!) geforderten Veränderungen und Eingriffe zu verzichten. Die schlechte: der tunesische Schauspieler Mustapha Adaouani ist am Donnerstag im Alter von 60 Jahren gestorben. Er spielte unter anderem in L'homme de cendres, Asfour Stah, Été à la Goulette, Bab el Arch und Le Prince. Nachrufe unter anderem hier und hier.

15.12.2006

Angst hat Seele aufgegessen

Versuch eines Überblicks über Tendenzen im tunesischen Gegenwartsfilm Seit Mitte der 1990er Jahre herrschte Funkstille – nach Jahren des Erfolgs und der Anerkennung war es still geworden ums tunesische Kino. Nouri Bouzid, Moufida Tlatli, Mahmoud Ben Mahmoud und Ferid Boughedir lebten mehr vom Ruhm vergangener Tage als von aktuellen Filmen, Nachfolger waren nicht in Sicht.

Mit einer Ausnahme: Mohamed Zran drehte seinen ersten Spielfilm Essaida (1996). Was ein unverstellter, neuer Blick auf die sozialen Realitäten des Landes! Eine Kamera auf Augenhöhe der Protagonisten, Dialoge, die die Realität spüren ließen, und eine Auseinandersetzung mit den Schattenvierteln, wie der Regisseur die Armenquartiere am Rand der Großstädte in einem Interview nennt. Essaida

Doch Essaida blieb zunächst eine Einzelerscheinung. Und nur langsam schienen junge Filmemacher nachzukommen, vereinzelt blitzten neue Ideen, neue Talente auf. Weiterhin aber drehten und drehen die Filmemacher der so genannten zweiten Generation Filme, ganz Themen und Stil der 80er Jahre verhaftet – gesellschaftskritisch, aber den Blick nicht mehr wie direkt nach der Unabhängigkeit aufs Kollektiv, sondern auf individuelle Leidensgeschichten gerichtet, die Figuren eingeschlossen von Traditionen und Normen, hinter Fenstern und Türen – Raum und innere Befindlichkeit meist unlöslich verknüpft. Doch um die Jahrtausendwende wirkten die Filme von Bouzid, von Selma Baccar und anderen visuell und inhaltlich überkommen. Da war sie, die Krise des tunesischen Kinos. Nicht nur filmisch stießen die Regisseure an Grenzen, auch Produktion und Auswertung litten, immer mehr Raubkopien überschwemmten den Markt, reihenweise schlossen die Säle, ins Kino kamen hauptsächlich ägyptische Melodramen und ältere amerikanische Mainstreamfilme. Und nicht zuletzt spürte man im tunesischen Kino auch die Auswirkungen der politischen Situation, die die Zivilgesellschaft lähmt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die traditionell kritischen und politischen tunesischen Filmemacher auf die sich verschärfenden Rahmenbedingungen reagieren würden – aber wie? Wie mit dem Erbe der älteren Generation umgehen, das zwar dem tunesischen Film internationale Anerkennung als intimes Autorenkino eingebracht hat, das sich aber mehr und mehr zur Bürde entwickelt hat? Raja Amaris Satin Rouge war einer der ersten Filme, der etwas Neues wagte. Was zunächst aussieht wie die Inszenierung westlicher Orientphantasien gepaart mit stilistischen Merkmalen der „zweiten Generation“, ist unter der Oberfläche der Bruch mit einigen der ältesten Konventionen des tunesischen Films – kein Wunder, dass er für einige Aufregung und Polemik sorgte.

Satin Rouge

Die Befreiung der Heldin Lilia ist keine geistige Emanzipation mehr wie z.B. in La Trace , es ist eine körperliche, eine sinnliche Selbstfindung. Und Lilia ist nicht mehr die brave Mutter und Hausfrau, sondern die Rivalin ihrer Tochter. Was auf den ersten Blick aussieht wie die „klassische“ Raumgestaltung (zum enfermement wohl am prägnantesten Sonia Chamkhi in ihrer Dissertation Le noveau cinéma tunisien. Parcours autre) verkehrt Amari mal eben ins Gegenteil. Das Cabaret, der huis clos schlechthin, wird in Satin Rouge zum Ort der Befreiung. Sich zunehmend verschlechterte Arbeitsbedingungen für Journalisten, die Gängelung von Künstlern und Kulturschaffenden: das ging an vielen tunesischen Regisseuren nicht unbemerkt vorbei und wurde seit Beginn des neuen Jahrtausends wieder verstärkt thematisiert. Schaut man sich die letzten Filme dreier etablierter Regisseure an – Ridha Behis La boîte magique, Taieb Louhichis La danse du vent und Naceur Ktaris Sois mon amie (der mehr als 25 Jahre nach Les Ambassadeurs wieder einen Film drehte) – ist die Bilanz düster. Alle drei erzählen mit unterschiedlichen Akzenten von Künstlern in der Schaffenskrise, alle drei enden mit deren tragischen Tod. Und zumindest für La danse du vent (und in gewissem Maße auch für Sois mon amie) gilt, was sich dann besonders in Bab el Arch zeigt: eine Überfrachtung mit Inhalt und großen Symbolen, eine Dringlichkeit, sich auszudrücken, alle Probleme und Befindlichkeiten in einem einzigen Film auf die Leinwand zu bringen. „Le cinéma du Sud est un cinéma d’urgence et non pas d’auteur“, schrieb die tunesische Journalistin Rim Saidi, als Bab el Arch 2004 auf den JCC Premiere hatte – Ausdruck dafür, dass zwar neue Diskurse aufkamen, die filmische Form aber nur selten folgte. Die Angst, die sie ausdrückten, schien die Seele des Films gefressen zu haben. Doch dies war nur eine Seite der Entwicklung. Denn parallel dazu entstanden einige Filme, die, ohne an der Oberfläche politisch oder gar didaktisch zu sein, einer neuen Befindlichkeit Ausdruck verliehen, allen voran der zu Unrecht in der Versenkung verschwundene, narrativ wie visuell brilliante No Man’s Love, Spielfilmdebüt von Nidhal Chatta. Auch Jilani Saadis Khorma oder Nawfel Saheb-Ettabaas El Kotbia würde ich dazurechnen, auch der bereits erwähnte Satin Rouge oder Mohamed Zrans Le Prince, eine leichtfüßige Sozialkomödie mit einer im tunesischen Filme seltenen, feinen Selbstironie.

No Man's Love

Daneben standen freilich solche Filme wie Selma Baccars einfach nur ärgerlicher Fleurs d’oubli (sehr prägnant dazu Olivier Barlet hier) oder Moufida Tlatlis schwacher Nadia et Sarra, der in Deutschland unter dem Titel Rivalinnen ins TV kam (eine Arte-Auftragsproduktion – der Sender soll ziemlichen Einfluss darauf genommen haben), Nouri Bouzids Poupées d’argile oder Khaled Ghorbals Fatma. Ästhetisch disparat eint sie der vermeintlich emanzipatorische Diskurs – ein Diskurs, der angesichts der sozialen Realitäten in Tunesien schematisch und überholt daherkommt (Ghorbal z.B. lebt in Frankreich) und eher von europäischen Vorurteilen und Erwartungen als einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema geprägt erscheint. Während die „Alten“ das Verhältnis von Männern und Frauen offensiv verhandelten und altbewährte Täter-Opfer-Schemata auf die Leinwand brachten, ist die Emanzipation in den „jüngeren“ Filmen schlicht in die Arbeit mit eingeflossen, sie zeigen keine Opfer mehr, sondern ganz „normale“ Tunesierinnen mit ihren ganz alltäglichen Sorgen und Nöten, positive role models eben. Lange war nicht klar, ob es sich bei den genannten Filmen um solitäre Phänomene handelte, doch die JCC 2006 schienen die Gewissheit zu liefern, dass sich im tunesischen Film einiges bewegt. Der endliche fertig gewordene und mehrfach zitierte Elle et Lui und die neuste Film-Arbeit von Fadhel Jaibi, Junun, zeigten, dass auch Stil und Inszenierungskonzept der neuen inhaltlichen Richtung folgen – beide in jeder Hinsicht äußerst radikal.

Junun

Daneben Moncef Dhouib mit seiner bewusst populär gehaltenen Satire La télé arrive, Nouri Bouzid, der mit Making Off langsam zu alter Form zurückfindet bzw. diese erneuert (auch wenn der Tanit d’or ihm wohl hauptsächlich verliehen wurde, um ein film-politisches Zeichen zu setzen) und Jilani Saadi mit seinem zweiten Spielfilm La tendresse du loup, der zwar unter narrativen Schwächen leidet, aber schonungslos die dunkle Seite der tunesischen Jugend beleuchtet. Vielleicht hat die Angst ja doch noch ein bißchen Seele übrig gelassen...

Bei aller Begeisterung über die sich auszubreiten scheinende Aufbruchsstimmung: Kontinuität ist noch nicht gegeben. Die meisten RegisseurInnen haben neben einigen Kurzfilmen gerade mal einen Langfilm gedreht (Elyes Baccar und Nawfel Saheb-Ettabaa bereiten neue Filme vor, Mourad Ben Cheikh hat ebenfalls ein Projekt in Arbeit), auch Schwächen im Drehbuch-Bereich lassen sich nicht verneinen. Es scheint also nötig, dass sich auch die Produktionssituation wieder stabilisiert und die Filme auch in Tunesien in die Kinos kommen (so lief zum Beispiel Nacer Khemirs Bab Aziz bis heute nicht) und nicht eine reine Festival-Angelegenheit bleiben, die nur eine Handvoll Leute überhaupt erreichen.

05.12.2006

Interview mit Fadhel Jaibi

Hier ein kleiner Verweis auf ein hochinteressantes Interview mit Fadhel Jaibi à propos Junun, die tunesische Film- und Theaterszene, die Zensur von Khamsoun etc pp, erschienen gestern in Le Temps.
Und wo wir gerade bei Jaibi sind: hier gibt es die Dokumentation von Mahmoud Ben Mahmoud Fadhel Jaibi, un théâtre en liberté.

03.12.2006

Du bist Hassloch!

Hassloch ist Durchschnitt, zumindest für die GfK. Die führt in der durchschnittlichsten Stadt Deutschlands ihren "Behavior Scan" durch, also: Wie reagiert welches Sinus-Milieu auf welche neuen Produkte im Supermarkt oder auf die spezielle für die Testhaushalte geschaltete Fernsehwerbung? Hassloch, das ist Kegelbahn und Kaninchenzüchterverein, ein Musterbeispiel der deutschen Provinz. Jürgen Brügger und Jörg Haassengier haben sich in die Pfalz begeben, und das typisch deutsche ein bißchen genauer unter die Lupe genommen. Herausgekommen ist Kopfende Hassloch, ein Dokumentarfilm voller skurriler Figuren, der die Provinz minutiös unter die Lupe nimmt. Hassloch verkörpert, was man nie sein wollte: Durchschnitt und Langeweile. Aber, mal ganz ehrlich: sind wir nicht alle ein bißchen Hassloch?
Zu sehen war dieses mit dem Deutschen Kamerapreis 2006 ausgezeichnete Kleinod übrigens im nicht ganz so provinziellen Mainz auf dem gar nicht provinziellen Festival Filmz, auf dem es seit diesem Jahr eine eigene Dokumentarfilmreihe gibt und außerdem die erste Roland Klick-Retrospektive.