15.12.2006

Angst hat Seele aufgegessen

Versuch eines Überblicks über Tendenzen im tunesischen Gegenwartsfilm Seit Mitte der 1990er Jahre herrschte Funkstille – nach Jahren des Erfolgs und der Anerkennung war es still geworden ums tunesische Kino. Nouri Bouzid, Moufida Tlatli, Mahmoud Ben Mahmoud und Ferid Boughedir lebten mehr vom Ruhm vergangener Tage als von aktuellen Filmen, Nachfolger waren nicht in Sicht.

Mit einer Ausnahme: Mohamed Zran drehte seinen ersten Spielfilm Essaida (1996). Was ein unverstellter, neuer Blick auf die sozialen Realitäten des Landes! Eine Kamera auf Augenhöhe der Protagonisten, Dialoge, die die Realität spüren ließen, und eine Auseinandersetzung mit den Schattenvierteln, wie der Regisseur die Armenquartiere am Rand der Großstädte in einem Interview nennt. Essaida

Doch Essaida blieb zunächst eine Einzelerscheinung. Und nur langsam schienen junge Filmemacher nachzukommen, vereinzelt blitzten neue Ideen, neue Talente auf. Weiterhin aber drehten und drehen die Filmemacher der so genannten zweiten Generation Filme, ganz Themen und Stil der 80er Jahre verhaftet – gesellschaftskritisch, aber den Blick nicht mehr wie direkt nach der Unabhängigkeit aufs Kollektiv, sondern auf individuelle Leidensgeschichten gerichtet, die Figuren eingeschlossen von Traditionen und Normen, hinter Fenstern und Türen – Raum und innere Befindlichkeit meist unlöslich verknüpft. Doch um die Jahrtausendwende wirkten die Filme von Bouzid, von Selma Baccar und anderen visuell und inhaltlich überkommen. Da war sie, die Krise des tunesischen Kinos. Nicht nur filmisch stießen die Regisseure an Grenzen, auch Produktion und Auswertung litten, immer mehr Raubkopien überschwemmten den Markt, reihenweise schlossen die Säle, ins Kino kamen hauptsächlich ägyptische Melodramen und ältere amerikanische Mainstreamfilme. Und nicht zuletzt spürte man im tunesischen Kino auch die Auswirkungen der politischen Situation, die die Zivilgesellschaft lähmt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die traditionell kritischen und politischen tunesischen Filmemacher auf die sich verschärfenden Rahmenbedingungen reagieren würden – aber wie? Wie mit dem Erbe der älteren Generation umgehen, das zwar dem tunesischen Film internationale Anerkennung als intimes Autorenkino eingebracht hat, das sich aber mehr und mehr zur Bürde entwickelt hat? Raja Amaris Satin Rouge war einer der ersten Filme, der etwas Neues wagte. Was zunächst aussieht wie die Inszenierung westlicher Orientphantasien gepaart mit stilistischen Merkmalen der „zweiten Generation“, ist unter der Oberfläche der Bruch mit einigen der ältesten Konventionen des tunesischen Films – kein Wunder, dass er für einige Aufregung und Polemik sorgte.

Satin Rouge

Die Befreiung der Heldin Lilia ist keine geistige Emanzipation mehr wie z.B. in La Trace , es ist eine körperliche, eine sinnliche Selbstfindung. Und Lilia ist nicht mehr die brave Mutter und Hausfrau, sondern die Rivalin ihrer Tochter. Was auf den ersten Blick aussieht wie die „klassische“ Raumgestaltung (zum enfermement wohl am prägnantesten Sonia Chamkhi in ihrer Dissertation Le noveau cinéma tunisien. Parcours autre) verkehrt Amari mal eben ins Gegenteil. Das Cabaret, der huis clos schlechthin, wird in Satin Rouge zum Ort der Befreiung. Sich zunehmend verschlechterte Arbeitsbedingungen für Journalisten, die Gängelung von Künstlern und Kulturschaffenden: das ging an vielen tunesischen Regisseuren nicht unbemerkt vorbei und wurde seit Beginn des neuen Jahrtausends wieder verstärkt thematisiert. Schaut man sich die letzten Filme dreier etablierter Regisseure an – Ridha Behis La boîte magique, Taieb Louhichis La danse du vent und Naceur Ktaris Sois mon amie (der mehr als 25 Jahre nach Les Ambassadeurs wieder einen Film drehte) – ist die Bilanz düster. Alle drei erzählen mit unterschiedlichen Akzenten von Künstlern in der Schaffenskrise, alle drei enden mit deren tragischen Tod. Und zumindest für La danse du vent (und in gewissem Maße auch für Sois mon amie) gilt, was sich dann besonders in Bab el Arch zeigt: eine Überfrachtung mit Inhalt und großen Symbolen, eine Dringlichkeit, sich auszudrücken, alle Probleme und Befindlichkeiten in einem einzigen Film auf die Leinwand zu bringen. „Le cinéma du Sud est un cinéma d’urgence et non pas d’auteur“, schrieb die tunesische Journalistin Rim Saidi, als Bab el Arch 2004 auf den JCC Premiere hatte – Ausdruck dafür, dass zwar neue Diskurse aufkamen, die filmische Form aber nur selten folgte. Die Angst, die sie ausdrückten, schien die Seele des Films gefressen zu haben. Doch dies war nur eine Seite der Entwicklung. Denn parallel dazu entstanden einige Filme, die, ohne an der Oberfläche politisch oder gar didaktisch zu sein, einer neuen Befindlichkeit Ausdruck verliehen, allen voran der zu Unrecht in der Versenkung verschwundene, narrativ wie visuell brilliante No Man’s Love, Spielfilmdebüt von Nidhal Chatta. Auch Jilani Saadis Khorma oder Nawfel Saheb-Ettabaas El Kotbia würde ich dazurechnen, auch der bereits erwähnte Satin Rouge oder Mohamed Zrans Le Prince, eine leichtfüßige Sozialkomödie mit einer im tunesischen Filme seltenen, feinen Selbstironie.

No Man's Love

Daneben standen freilich solche Filme wie Selma Baccars einfach nur ärgerlicher Fleurs d’oubli (sehr prägnant dazu Olivier Barlet hier) oder Moufida Tlatlis schwacher Nadia et Sarra, der in Deutschland unter dem Titel Rivalinnen ins TV kam (eine Arte-Auftragsproduktion – der Sender soll ziemlichen Einfluss darauf genommen haben), Nouri Bouzids Poupées d’argile oder Khaled Ghorbals Fatma. Ästhetisch disparat eint sie der vermeintlich emanzipatorische Diskurs – ein Diskurs, der angesichts der sozialen Realitäten in Tunesien schematisch und überholt daherkommt (Ghorbal z.B. lebt in Frankreich) und eher von europäischen Vorurteilen und Erwartungen als einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema geprägt erscheint. Während die „Alten“ das Verhältnis von Männern und Frauen offensiv verhandelten und altbewährte Täter-Opfer-Schemata auf die Leinwand brachten, ist die Emanzipation in den „jüngeren“ Filmen schlicht in die Arbeit mit eingeflossen, sie zeigen keine Opfer mehr, sondern ganz „normale“ Tunesierinnen mit ihren ganz alltäglichen Sorgen und Nöten, positive role models eben. Lange war nicht klar, ob es sich bei den genannten Filmen um solitäre Phänomene handelte, doch die JCC 2006 schienen die Gewissheit zu liefern, dass sich im tunesischen Film einiges bewegt. Der endliche fertig gewordene und mehrfach zitierte Elle et Lui und die neuste Film-Arbeit von Fadhel Jaibi, Junun, zeigten, dass auch Stil und Inszenierungskonzept der neuen inhaltlichen Richtung folgen – beide in jeder Hinsicht äußerst radikal.

Junun

Daneben Moncef Dhouib mit seiner bewusst populär gehaltenen Satire La télé arrive, Nouri Bouzid, der mit Making Off langsam zu alter Form zurückfindet bzw. diese erneuert (auch wenn der Tanit d’or ihm wohl hauptsächlich verliehen wurde, um ein film-politisches Zeichen zu setzen) und Jilani Saadi mit seinem zweiten Spielfilm La tendresse du loup, der zwar unter narrativen Schwächen leidet, aber schonungslos die dunkle Seite der tunesischen Jugend beleuchtet. Vielleicht hat die Angst ja doch noch ein bißchen Seele übrig gelassen...

Bei aller Begeisterung über die sich auszubreiten scheinende Aufbruchsstimmung: Kontinuität ist noch nicht gegeben. Die meisten RegisseurInnen haben neben einigen Kurzfilmen gerade mal einen Langfilm gedreht (Elyes Baccar und Nawfel Saheb-Ettabaa bereiten neue Filme vor, Mourad Ben Cheikh hat ebenfalls ein Projekt in Arbeit), auch Schwächen im Drehbuch-Bereich lassen sich nicht verneinen. Es scheint also nötig, dass sich auch die Produktionssituation wieder stabilisiert und die Filme auch in Tunesien in die Kinos kommen (so lief zum Beispiel Nacer Khemirs Bab Aziz bis heute nicht) und nicht eine reine Festival-Angelegenheit bleiben, die nur eine Handvoll Leute überhaupt erreichen.

2 Kommentare:

orcival hat gesagt…

hallo,
hast du dich so sehr über khourys artikel bei mir geärgert, dass du beschlossen hast, (und es ist dir durchaus gelungen) es besser zu machen?

ich haette ein paar fragen und einen hinweis.
zunächst die fragen: ich muss ja gestehen wenig über tunesischen film zu wissen, bisher sind mir - wahrscheinlich eher zufällig - eher marokkanische und algerische exemplare untergekommen. wie sieht es denn in tunesien mit förderung durch westliche -lies: vermutlich französische - fernsehsender aus.
solche förderungen sind zwar oft zweischneidig (du sprichst das ja bei arte an), aber meist nichtsdestotrotz dringend lebenswichtig. ist das in tunesien mit etwa marokko vergleichbar oder eher weniger?

wenn ich ein kleines desiderat bemerken darf: ich finde es schade, dass die einzige anmerkung zu der formalen gestaltung dieser filme die kritik an symbolischer überladenheit ist.
mich zumindest tät schon interessieren, ob es in der von dir ausgemachten zweiten tendenz/strömung auch einende formale gesichtspunkte gibt.
nur als beispiel: mir scheint, es doch auffällig, dass etwa zwischen auch den ambitionierteren ägyptischen filmen und jenen des maghreb formal welten liegen. innerhalb der maghrebländer scheinen mir jedoch ähnliche äthetische kriterien zugrundegelegt zu werden, aber da weisst du definitiv besser bescheid als ich. deshalb die frage.

abschliessend möchte ich für eine ringvorlesung werben, die dieses semester an der hu berlin stattfindet und sich in durchaus wechselnder qualität mit "Genderperspektiven in Nordafrika:
Literatur, Film und Gesellschaft"
programm gibts hier:
http://www2.hu-berlin.de/asaf/Afrika/Dokumente/Aktuelles/TU-RV_Gender-Nordafrika_f.pdf

Sarah hat gesagt…

Nein, ich wollte das eigentlich gar nicht so sehr als Replik auf Khoury verstanden wissen, sondern schon seit den JCC mal was längeres über tunesische Filme (richtig erkannt: mein Steckenpferd)schreiben, bin nur einfach nicht früher dazu gekommen.

Jetzt zu deinen Fragen/Anmerkungen:
Es gab in Tunesien früher mal die SATPEC, eine staatliche Produktionsfirma, die aber in den 90ern Konkurs gegangen ist bzw. aufgelöst wurde. Es gibt zwei, drei größere Produktionsfirmen (CTV von Abdelaziz Ben Mlouka, Cinétéléfilms von Ahmad Bahaeddine Attia zum Beispiel) und viele kleine, die meistens den Regisseuren selbst gehören. D.h. einen Teil der Finanzlast tragen oft die Regisseure selbst, man kann also ganz klassisch von Autorenfilmen sprechen, da diese meistens in (fast) allen Bereichen beteiligt sind. Dann gibt es die berühmt berüchtigte Kommission des Kulturministeriums, die nach Einreichung des Drehbuchs eine aide à la production vergeben kann. Nadia Attia, die bis 2005 die Filmsektion des Ministeriums leitete, meinte auf einer Pressekonferenz auf der Biennale in Paris 2004, alle, die Förderung beantragt hätten, hätten sie auch bekommen. Man hört da aber auch anderes... Und diese Kommission kann natürlich auch Einfluss nehmen auf die Stoffe, die sie fördert. In aller Regel braucht es aber trotzdem noch einen (ausländischen) Koproduzenten, meistens französisch, ich schätze mal, ohne es jetzt gezählt zu haben, dass mindestens 80% der Langfilme mit Frankreich koproduziert werden. Die Koproduktion sud-sud funktioniert leider so gut wie nicht, in letzter Zeit wurde meines Wissens nur Khochkhach (Fleur d'oubli) von Selma Baccar von einer marokkanischen Firma cofinanziert. Wie du ganz richtig sagst, es ist eine zweischneidige Sache, aber halt oft die einzige Möglichkeit, einen Film überhaupt zu finanzieren. Ganz unabhängig vom Staat und rein tunesisch finanzierte Filme sind die absolute Seltenheit. Und so Leute wie Tarek Ben Ammar, der ja mit Riesenpomp 2004 sein Studio eröffnet hat finanzieren in der Regel nur ausländische Filme, Historienschinken zum Beispiel. Da können sich dann einige tunesische Schauspieler Geld als römische Soldaten verdienen, aber die tunesische Filmwirtschaft profitiert davon so gut wie nicht.
In Marokko kenne ich die Produktionssituation nicht so gut, aber solche finanzkräftigen Leute wie den Vater von Nabil Ayouch, der ja mit seinem riesien Medienunternehmen auch Filme finanziert, finden sich in Tunesien auf jeden Fall nicht. Marokko befindet sich mit rund 20 Filmen/Jahr zur Zeit ja in der Hinsicht auch ziemlich im Aufwind, wobei sie wohl in Bezug aufs Aussterben der Säle und Raubkopien ein ähnliches Problem haben wie in Tunis.

Zu deiner zweiten Anmerkung, da war wohl mein Text ein bißchen unklar... Man spricht im tunesischen Film generell von zwei, beziehungsweise jetzt drei "Generationen" (das sind natürlich alles ein bißchen schematische Einteilungen, über die man diskutieren kann, aber sie machen halt die Verständigung oft einfacher): die erste sind die Filme, die nach der Unabhängigkeit entstanden sind und sich oft mit der Klonialisierung, dem Befreiungskampf etc auseinandersetzen, mehr oder weniger im Sinne des klassischen cinéma militant z.B. eben Omar Khlifis Genrefilme, aber auch wesentlich differenzierte Sichtwinkel anbietende Arbeiten, wie Sejnane von Abdellatif Ben Ammar, Et demain? von Babai, Les soleil des hyènes von Ridha Behi etc.
Ab ca 1980 (mit Aziza von Abdellatif Ben Ammar, wenn man es an einem Film festmachen möchte) setzt dann eine Periode von ca. 20 Jahren ein, die ein klassisches Autorenkino präsentiert, immer noch sozial engagiert, aber den Blick wesentlich stärker auf das Individuum gerichtet, dazu zählen zum Beispiel die ersten beiden Filme von Bouzid (L'homme de cendres, Les sabots en or), Les silences du palais von Tlatli, La trace von Nejia Ben Mabrouk Traversées von Mahmoud Ben Mahmoud (ganz großartig, meiner Meinung nach) um nur einige zu nennen (natürlich gibt es immer auch Filme, die nicht in dieses Schema passen, Nacer Khemirs Arbeiten zum Beispiel). Diese Filme haben neben inhaltlichen Berührungspunkten (verkürzt: in der Regel ein Individuum, dass sich gegen ein Kollektiv durchzusetzen sucht, also quasi nach der Unabhängigkeit die persönliche Emanzipation)auch stilistische Ähnlichkeiten, was oft mit dem Stichwort enfermement umschrieben wurde, also eine sehr prägnante Raumgestaltung, die die Grenzen, denen die Figur begegnet in jedem Moment auch visuell umsetzt. (Die Regisseure der zweiten generation wurden übrigens zum Großteil an der Insas in Brüssel ausgebildet, die der ersten oft an der femis)
Das halte ich per se überhaupt nicht für überladen oder so, es ist nur so, dass sich meiner Meinung nach diese inhaltlichen und visuellen Formen ca. ab Mitte der 90er einfach nicht mehr weiterentwickelt haben bzw sehr formelhaft angewendet wurden und mehr und mehr zur Konvention verkommen sind, also über die Form nicht mehr wirklich reflektiert wurde. Und dann gab es halt so Filme wie Bent Familia (tunisiennes) von Nouri Bouzid oder Fatma von Khaled Ghorbal, die hauptsächlich einen seit 20 Jahren herrschenden Diskurs einfach reproduzieren. Das ist dann das, was sich filmisch als Krise bemerkbar machte.
Ich habe bei den jetzt nachkommenden RegisserInnen und Filmen den Eindruck, dass ein großes Bewusstsein dieser (künstlerischen und politischen) rise vorhanden ist und die Filmemacher versuchen, damit umzugehen bzw. angemessene Formen suchen, sie auszudrücken. Das funktioniert nicht immer und es scheint mir zu früh, da einen bestimmten Trend ausmachen zu wollen oder bestimmte "Schulen" zu bennenen, aber es findet auf jeden Fall eine starke Auseinandersetzung mit dem Thema statt.

Ob man generell von einem maghrebinischen Stil sprechen kann weiß ich nicht. Ich denke, es gibt sicher Ähnlichkeiten, in den frühen Jahren nach der Unabhängigkeit v.a. zwischen Algerien und Tunesien, auch im tunesischen und marokkanischen Film der 80er, 90er Jahre (Algerien fällt da ja wegen des Bürgerkriegs relativ raus), wobei mir das marokkanische Kino immer eine stärkere soziale Orientierung zu haben schien, das tunesische stärker aufs Individuum konzentriert.
Es gibt da übrigens eine ganz interessante Dissertation von Leonardo de Francheschi mit dem Titel "Hudud" zur Raumgestaltung im maghrebinischen Film, leider nur auf italienisch, eine Zusammenfassung steht in CinemAction, der Maghreb-Nummer von 2004. Und bei L'Harmattan ist dieses Jahr ein neues Buch zu dem Thema von Roy Armes erschienen - ich habe es noch nicht gelesen, aber oben genannter Leonardo meinte, es sei in seinen Schlussfolgerungen etwas problematisch.

Ich hoffe ich konnte deine Frage einigermaßen beantworten!?