26.09.2006

Hingehen, anschauen!

Auf dem 49. Dokumentarfilmfestival in Leipzig (30.Oktober bis 5.November 2006) läuft unter dem Titel Tausendundein Bild - Arabischer Dokumentarfilm im Aufbruch eine Sonderreihe zu aktuellen arabischen Dokumentarfilmen. Auf der Homepage des Festivals heißt es: Der Nahe Osten und die arabischen Länder sind zu einem Brennpunkt der Weltpolitik geworden. Die Religion wird vielfach als Rechtfertigung für imperiale Bestrebungen wie für die Destabilisierung ganzer Gesellschaften durch Terror missbraucht. Die Filme der Sonderreihe widmen sich einer ganz anderen Perspektive auf die arabische Welt: Der Innenansicht - in persönlichen, intenisven Geschichten, genauen Beobachtungen des Alltags der Menschen in der Region jenseits idelologischer Grenzen. DOK Leipzig möchte mit seinem Sonderprogramm zum aktuellen arabischen Dokumentarfilm eine Welt zugänglich machen, die sich dem westlichen Fernsehzuschauer und Kinogänger weitgehend verschließt.

13.09.2006

Women’s Prison

Am Anfang steht der Blick von Außen. Der Blick einer Gefängniswärterin auf die Insassinen eines Teheraner Frauengefängnisses. Die Kamera folgt ihr durch Gänge, an Türen und Gittern vorbei, macht sich ihre Position zu eigen, den Blick auf Bahai, Monarchistinnen, Demokratinnen, kurz: auf all jene, die zu laut ihre Kritik an der iranische Mullahkratur geäußert haben. Fast gefühllos wirkt Women’s Prison, erster Spielfilm der erfolgreichen Produzentin Manijeh Hekmat, zu Beginn. Sie will kein Mitleid erregen, nicht um jeden Preis die Betroffenheit der Zuschauer hervorrufen. Die kommt mit der Zeit wie von selbst. Zwischen 1984 und 2001 zeigt Hekmats Film das Verhältnis zwischen der regimetreuen, beinahe drakonischen Gefängnis-Direktorin und der zunächst aufmüpfigen Insassin Mitra (Roya Nonahali). Über die Jahre landen drei junge Frauen in Haft (alle verkörpert von Hekmats Tochter Baran Kosari), die die verschiedenen Generationen iranischer Frauen und ihrer jeweils spezifischen Probleme verkörpern. Und je nach politischer Lage ändert sich auch die Stimmung in der Haftanstalt. In ihrem dokumentarisch anmutenden Film gelingt Hekmat eine subtile Analyse der Machtstrukturen innerhalb des Gefängnisses. Sie zeigt, wie sich Mitra langsam anpasst, damit sie für sich und ihre Mithäftlinge hin und wieder ein paar Vorteile herausschlagen kann. Der Mikrokosmos des Gefängnisses wird dabei zum Sinnbild für den iranischen Staat, der seinen Bürgern die Freiheit nimmt. Nur sind es in Women’s Prison nicht die Männer, die ihren Ehefrauen, Töchtern und Schwestern die Freiheit nehmen, es ist eine andere Frau, die dies tut. Dadurch, dass die Regisseurin den Film in einer rein weiblichen Welt spielen lässt, zeigt sie, dass der Kampf um Freiheit im Iran primär zwischen Herrschenden und Zivilgesellschaft ausgetragen wird. Wenn es um den Kampf für Freiheit geht, ist das Geschlecht zweitrangig.
Women's Prison (Manijeh Hekmat, Iran 2002)

12.09.2006

The Namesake

Nichts für Bollywood-Liebhaber: Mira Nair kehrt zu ihren realistischen Wurzeln (Salaam Bombay) zurück. Nicht von ungefähr widmet die Regisseurin ihren jüngsten Film den großen Vätern des indischen New Cinema der 60er und 70er Jahre, Satyajit Ray und Ritwik Ghatak. The Namesake ist weit entfernt von dem, was in den letzten Jahren verstärkt aus Bollywood nach Europa schwappte, auch von Nairs Monsoon Wedding (einer abgemilderten, „verwestlichten“ Variante des Bollywood-Films). Wenn hier gesungen und getanzt wird, dann ist das allenfalls ein ironisches Zitat. Hier gibt es keinen Überfluss an Farben, an Musik, an Gefühlen – Platz für Humor, menschliche Dramen und einige der besten Schauspieler der indischen Traumfabrik gibt es dennoch. Ein junges indisches Pärchen, dessen Hochzeit von den Eltern arrangiert wurde, zieht Ende der 70er Jahre nach New York. Fern der Heimat bekommen Ashima und Ashoke Ganguli zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Ihr Sohn wird Gogol genannt in Erinnerung an Nikolaij Gogol, den russischen Lieblingsautor von Ashoke. Für den Jungen ist sein Name eine Bürde, so dass er ihn in Nikhil ändert, bis er den eigentlichen Grund erfährt, warum er diesen Namen trägt. Mira Nairs Verfilmung des gleichnamigen Romans von Pulitzer-Preisträgerin Jhumpa Lahiri zeichnet die Familiengeschichte der bengalischen Familie Ganguli nach, hin- und hergerissen zwischen Indien, wo ihre Wurzeln liegen, und den USA, wo die Kinder sich zu Hause fühlen. Das Thema mag nicht unbedingt neu sein, aber Regisseurin Mira Nair erzählt mit großer Sensibilität von der Suche nach einer eigenen Identität, von ihren zwei Seiten, exemplarisch durch die beiden Namen Nikhil und Gogol vereint. Durch die Kondensierung des Romans kommt es immer wieder zu Längen einerseits, zu einer manchmal elliptischen Erzählweise andererseits. So erfährt der Zuschauer nur en passant etwas über den Hintergrund der Eltern oder über Gogols jüngere Schwester Sonja. Doch in den meisten Fällen gelingt es Nair, die Balance zu halten zwischen den Geschichten der beiden Generationen, die sich in Amerika oft voneinander entfernt zu haben scheinen, um dann am Ende doch wieder als Familie zusammenzukommen. The Namesake (Mira Nair, 2006, 122’)

06.09.2006

Festival des cinémas Arabes à Genève

Auch Genf hat jetzt sein eigenes Festival des arabischen Films. Zum ersten Mal findet es vom 25.September bis 1.Oktober 2006 statt. Die Kooperation mit dem IMA schlägt sich deutlich in der Programmgestaltung nieder. Denn gezeigt werden die auf der Biennale des cinémas arabes zwischen 1992 und 2006 prämierten langen und kurzen Spiel- und Dokumentarfilme. Zusätzlich gibt es eine Hommage an den großen algerischen Regisseur Mohamed Lakhdar-Hamina. Weitere Infos und Programm hier sowie in folgender Pressemitteilung:
Concept de base du festival: A l'instar d'autres cités internationales telles que Londres, Paris, Amsterdam, New York, Beyrouth ou Dubaï, notre association Suisse-Algérie-Harmonie a décidé d'organiser son évent annuel sous le signe de l'ouverture aux mondes Arabes à travers l'organisation d'un festival des cinémas Arabes à Genève du 25 septembre au 1er octobre 2006 en partenariat avec l'Institut du Monde Arabe de Paris, la ville de Genève, le cinéma CAC - Voltaire et des sponsors Suisses. Cette 1ère édition du Festival des cinémas arabes se devait d'être soulignée par des actions festives et pédagogiques. Notre comité a décidé, en accord avec l'I.M.A., de privilégier ces axes:
-Une sélection de films primés de 1992-2006 dans le cadre de la Biennale des cinémas Arabes de Paris organisée par l'IMA. C'est une programmation exceptionnelle de 30 films. -La mise en avant de la personnalité culturelle du festival par une exposition thématique, des projections de documentaires et des conférences de presse avec les cinéastes.
-L'accueil de cinéastes, de journalistes arabes et des directeurs du festival de Dubaï, Beyrouth, Caire, Carthage, Casablanca et d'Alger.
-La présidence d'honneur du festival par Monsieur Mohamed Lakhdar HAMINA, cinéaste Algérien, palme d'or du festival de Cannes en 1975, seul cinéaste Arabe primé à ce jour.
-Une campagne de communication d'un mois est agendée (septembre 2006) avec la Societé Générale d'Affichage, les Transport Public Genevois, Lemanbleu TV, TV5-Monde, radio Orient et la presse Suisse.-Une édition d'un catalogue grand public de programmation et de publicité pour nos sponsors
-Semaine des Saveurs orientales au café-restaurant le Grütli/ un spécial soirée ramandhan.

„Zaina, Königin der Pferde“ von Bourlem Guerdjou

Nach seinem Aufsehen erregenden Debüt Vivre au paradis kehrt Bourlem Guerdjou mit seinem zweiten Spielfilm zurück. Zaina, Königin der Pferde (Publikumspreis in Locarno 2005) erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens. Ihre Mutter, vom Vater noch vor der Geburt der Tochter verstoßen, lebt mit ihr in der Stadt bei Omar. Doch während eines Streits rutsch die Mutter aus, stürzt unglücklich und stirbt. Zaina gibt Omar die Schuld und will nicht zu ihm zurückkehren. Zunächst in der Obhut eines Imams taucht schließlich ihr Vater auf. Er befindet sich auf dem Weg zum legendären Pferderennen von Marrakech, das alle vier Jahre Reiter aus der ganzen arabischen Welt anzieht. Als er sich entschließt, Zaina mitzunehmen, heftet sich Omar an ihre Fersen. Er versucht um jeden Preis, das Mädchen wiederzubekommen. Auf der Reise wird Zaina erwachsen und beginnt langsam, sich ihrem Vater anzunähern. Dann beschließt sie, als Amazone das Erbe ihrer Mutter anzutreten. Nach einer Verfolgungsjagd durchs schneebedeckte Atlasgebirge kommt es beim Pferderennen zum großen Showdown. Am Anfang steht man diesem Film etwas ratlos gegenüber. Was will er sein? Kinderfilm oder orientalisches Märchen, Abenteuerfilm oder Parabel über die Unterdrückung arabischer Frauen? Man weiß es nicht, und der Film scheint es genauso wenig zu tun. Ohne zeitlich verortet zu sein, finden sich Elemente aller Genres wieder, ohne jedoch zu einer Einheit zusammenzukommen. Für Kinder sind einige Kampfszenen sicher zu nervenaufreibend, für ein Märchen à la 1001 Nacht fehlt es an Poesie, die einzelnen Schritte und der Ausgang des Abenteuers sind allzu vorhersehbar (zumal die Schluss-Szene am Anfang vorweg genommen wird), für eine Parabel ist Zaina schlicht zu platt. So ist der Film weit entfernt von etwa der visuellen wie narrativen Brillanz eines Nacer Khemir (Les baliseurs du desert, Le collier perdu de la colombe, Bab Aziz). Die Drehbuchautorin Juliette Sales verwendet in ihrer klassischen Rache-Geschichte Motive aus 1001 Nacht und den Legenden, die sich um die Berberkönigin Kahena ranken, die sich ihres despotischen Ehemanns entledigte und ihr Volk gegen die arabische Okkupation verteidigte. Gut und Böse sind klar getrennt, die Musik gibt die Interpretation vor und das Ende eben so rührend wie vorhersehbar. Man kann nur darüber spekulieren, wie es dazu kommt, dass Guerdjou so einen Film dreht. Doch die „Europudding“-Vermutung liegt nahe. Ein marrokanisch-stämmiger Regisseur aus Frankreich, eine französische Szenaristin, eine deutsch-französische Koproduktion mit internationalen Schauspielern (u.a. dem wunderbaren Altstar des marrokanischen Theaters, Mohamed Majd [Das Windpferd, Ali Zaoua, Mille Mois, Die große Reise, …], der seit einigen Jahren auch in vielen Filmen zu sehen ist, und, immer wieder gut: der armenisch-libanesische Schauspieler Simon Abkarian [Hier encore, Yes, Ararat, …und jeder sucht sein Kätzchen, …]) und das – wunderbar fotografierte (!) – Atlasgebirge als reine Kulisse für das klassische Action-Rache-Spektakel in orientalischer Verkleidung. Ich will Guerdjou nicht seine sicherlich guten Intentionen vorhalten (die Frau, die sich in patriarchalischem Umfeld durchsetzt…), aber leider kann Zaina weder inhaltlich noch in der filmischen Umsetzung wirklich überzeugen, zumal er letztendlich (und ich hoffe: unabsichtlich) immer wieder das Klischeebild des arabischen Mannes als patriarchalischen Despoten aufnimmt und genau die Stereotypen (backwards, Ehren-Morde, Clan-Strukturen etc) reproduziert, die auch die üblichen Verdächtigen à la Samuel Huntington immer wieder von sich geben. Schade, schade…
Zaina, Königin der Pferde (Bourlem Guerdjou, 2005, 100')
Foto: Prokino

03.09.2006

Crimson Gold von Jafer Panahi

Lange vor Offside beweist Jafer Panahi (wie auch in Der Kreis, 2000) in diesem Kultfilm (leider im Iran immer noch verboten) sein Talent, die grotesken Widersprüche in der iranischen Mullahkratur schonungslos offenzulegen. Von deren Antritts-Versprechen, soziale Missstände zu beseitigen, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Der Pizzafahrer Hussein, von zuviel Medikamenten und zuviel Pizza dick und lethargisch geworden, kurvt auf seinem Mofa durch Teheran. Immer dabei ist sein Kumpel, dessen Schwester er bald heiraten will. Amin Farzanefar (in seinem Buch Kino des Orients) hat ganz Recht, wenn er Crimson Gold als iranische Variante von Taxi Driver bezeichnet. Panahis Held ist ebenfalls ein rastloser Sucher, sein Vietnam, das ist der Iran-Irak-Krieg, und statt amerikanischen Fahrgästen befördert er italienischen Fastfood.
Unterwegs er-fährt er die soziale Topographie Teherans, pendelt auf seinem Roller mühelos zwischen den unterschiedlichsten Stadtvierteln, begegnet der Oberschicht, deren Leben so gar nichts mit seinem gemein hat. Dort feiern die Rich Kids der Hauptstadt feucht-fröhliche Partys, im Westen reich gewordenen Heimkehrer laden sich ein paar Nutten ein, um ihr Fernweh erträglicher zu gestalten, und den Sittenwächtern geht es weniger um die Sitten als um die eigene Macht. Je länger Hussein diesen Widersprüchen ausgesetzt ist, desto mehr wachsen Frust und Anspannung, bis er schließlich explodiert. Travis Bickle lebt! Crimson Gold, Jafer Panahi, Iran 2003, 95’

02.09.2006

"Sehnsucht" von Valeska Grisebach

„Mein Film ist wie ein Countrysong“, sagt Regisseurin Valeska Grisebach über Sehnsucht, ihren ersten Nach-der-Hochschule-Film. Country, das ist Heimat und (Leiden an der) Provinz, Sehnsucht und Gefühle. Welcher Ort wäre prädestinierter, um über Sehnsüchte nachzudenken, als die Provinz, dieser Flecken, an dem man meist unfreiwillig festsitzt, heimelig und miefig zugleich, ein Ort, an dem nichts passiert, wo die Koordinaten des Lebens problemlos auszumachen sind, dort, wo die Geschehnissen der großen weiten Welt nur ein ferner Widerhall sind. Wo die Frage nach dem „Was machst du morgen?“ noch mit „Einen Zaun bauen“ beantwortet wird. Provinz: bei Grisebach ist das ein verschlafenes 200-Seelen-Kaff in Brandenburg, freiwillige Feuerwehr, Gemeindechor, Kaffeekränzchen mit Sprühsahne und Kleinem Feigling, Stammtisch-Philosophie, Gartensessel mit Bezügen in 70er-Jahre-Mustern, rostige Hollywood-Schaukeln und als Soundtrack Dragostea Din Tei (man erinnere sich: der grauselige Sommerhit vor zwei oder drei Jahren) und Robbie Williams (der Widerhall der Großstadt). Die Sehnsucht spürt der Schlosser Markus, als er sich zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen fühlt, zwischen seiner Ehefrau Ella, die er über alles liebt, und der Kellnerin Rose, von der er nicht loskommt. Grisebachs Figuren können nicht reden, sie mussten nie reden in ihrem Provinzleben, in dem alles klar abgesteckt war. Und Markus hat Mühe, sich nun zu erklären, seine Gefühle, die er für beide Frauen in seinem Leben gleichermaßen hegt, auszudrücken. Dass er sich fremd fühlt in seinem Leben, das etwas durcheinanderkommt, das erahnt man allenfalls, das vibriert unter der Oberfläche. Bis es zum großen Knall kommt, zur eruptiven Entladung all jener Gefühle und Nöte, die Markus mit Worten nicht ausdrücken kann. Fast dokumentarisch wirkt Sehnsucht, er läuft ganz in jener Schiene jüngerer deutscher Filme, die über die Ränder sprechen, die Ränder von Städten und Gesellschaften, an denen nichts und doch so viel passiert. Mit einem unglaublichen Gespür für den richtigen Augenblick, voller Sinn für die Realität und die Sehnsüchte des Alltags inszeniert die Regisseurin das Drama eines sensiblen Menschen.
Absolut sehenswert! Sehnsucht (Valeska Grisebach, Deutschland 2006, 88’)